>Zuwendung ohne Zwang < 
Dietmar Kamper 
"Es ist allgemeine Christenpflicht, Ketzer in deren eigenem besten Interesse zu verfolgen." 
Aurelius Augustinus, zit. nach Thomas Szasz 
 

> 1. Gibt es ein Mitleid ohne Grausamkeit? Nächstenliebe und Solidarität sind historisch durch Macht korrumpiert. Statt der Freiheit des Anderen stand und steht seine Abhängigkeit im Zentrum der Bemühungen. Dieser Komplex mit seinen Folgeerscheinungen bedarf dringend der Aufklärung. Der Vorschlag: ,,Leiste mir Gesellschaft" beschreibt die Utopie einer kommenden Praxis.  

> 2. Es wird nötig sein, das soziale Band neu zu knüpfen. Die Freiheit des Anderen muß um alle Freiheit vermehrt werden, die man in sich autbringt. Dabei wäre zu beachten, daß man nicht nur von äußeren Zwängen, sei es der Natur, sei es der Gesellschaft, sondern auch von sich selbst abhängig sein kann, was historisch dazu führte, daß man den Anderen in seinem eigenen Namen entmündigte.  

> 3. Die Frage ist, ob nach der Epoche der korrumpierten Macht eine Zuwendung ohne Zwang möglich ist, anders gefragt, ob heute, unter den aktuellen Prämissen der ,,Nächstenliebe" und der ,,Solidarität" eine Instrumentalisierung des Anderen vermeidbar ist. Es ginge um eine Selbstbegrenzung der Hilfsbereitschaft, auch in den Fällen von Selbsthaß und Selbstzerstörung.  

> 4. Szasz schreibt, daß zwei Gefahren die Freiheit bedrohen: die Tyrannei und die Therapie. Foucault schreibt, daß man nicht vom Wahnsinn sprechen kann, ohne von der Vernunft zu sprechen, daß man nicht von der Pathologie handeln kann, ohne von der Normalität zu handeln. Beides läuft auf eine Kritik der identifizierenden, etikettierenden und definierenden Anthropologie hinaus.  

> 5. In solcher Anthropologie nämlich kommt das Totalitäre einer Gesellschaft zum Ausdruck, die kein Außen mehr kennt und sich in der totalen Homogenisierung, genauer in der totalen Internierung von Wahnsinn und Vernunft, von Pathologie und Normalität erschöpft. Im Falle des Wahnsinns und der Geisteskrankheit hat die erfolgreiche Abschaffüng des Außen die ganze Gesellschaft unterderhand in ein Kerkersystem verwandelt.  

> 6. Pathologisches und Normales, Wahnsinn und Vernunft, haben nicht einfach die Plätze gewechselt, so daß nun anstelle des alten Wahns eine neue Normalität und anstelle der alten Normalität ein neuer Wahn aufgetaucht wäre, sondern es hat eine Verschränkung beider stattgefunden, ein Chiasmus, der zu seiner Aufklärung eine andere, nicht identifizierende, nicht etikettierende und nicht definierende Anthropologie veriangt.  

> 7. Die Definitionen, Etikettierungen, Identifikationen des Wahns stammen aus dem Verhältnis der Menschen zueinander und sind nach wie vor voller Angst. Der daraus abgeleitete Komplex von Angst und Methode ist geradezu ein Bollwerk der immer noch funktionierenden Opfer- und Massakergesellschaft, das nur von einer ,,fraktalen", das heißt sich selbst beschränkenden Anthropologie, unterminiert werden kann.  

> 8. Schluß mit den Kriegsmetaphern! Die angespielte Anthropologie wäre machtlose Nächstenliebe und nicht-instrumentalisierende Solidarität. Auf dem Wege über eine Logik des Nicht-Ganzen hätte sie die Utopie einer kommenden Praxis dadurch zu leisten, daß sie endgültig auf Geschlossenheit verzichtet. So wie die gelungene Internierung des Wahnsinns der Wahnsinn ist, so ist jede geschlossene Theorie ein Agent des Kerkersystems Gesellschaft.  

Berlin, 21. Juni 1997  
 

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