>Thomas S. Szasz< 

>Thomas Szasz, 1920 in Budapest geboren, emigrierte 1938 in die Vereinigten Staaten. Er studierte Medizin und Psychiatrie und erhielt eine psychoanalytische Ausbildung in Chicago. 1948 eröffüete er eine psychoanalytische Praxis; ab 1956 war er Professor für Psychiatrie an der State University of New York in Syracuse; 1990 emeritiert. 

Thomas Szasz ist einer der schärfsten Kritiker der Psychiatrie und ihrer Behandlungsund Verwahrungspraktiken. Er gehört zu den ersten Vertretern der Anti-Psychiatrie, zusammen mit Ronald D. Laing, Robert Castel, David Cooper, Franco Basaglia und Erving Goffinan. 

Nach Szasz praktiziert die Psychiatrie ,,grausames Mitleid". Sie definiert Menschen zu psychisch ,,Erkrankten" und versorgt sie dementsprechend. Dadurch werden deren Freiheitsrechte grausam mißachtet. Er legt dar, daß die Psychiatrie - hervorgegangen aus Zwangseinrichtungen früherer Zeiten - vor allem dazu dient, sozial ,,unerwünschte" Personen im gesellschaftlichen Auftrag wegzusperren, vermeintlich zu deren eigenem Wohl, tatsächlich jedoch zum Wohl der Gesellschaft. 

Szasz erhebt die kompromisslose Forderung, alle Menschen, ob auffällig oder nicht, zuallererst als Mitbürger zu behandeln, d.h. ihnen die Freiheit zu lassen, so zu leben wie sie wollen. Auch wenn es andere stört. 


 Geisteskrankheit, ein moderner Mythos? 
von Thomas Szasz
> 1. Genau genommen können Krankheiten nur den Körper affizieren; daher kann es keine Geisteskrankheit geben. 

> 2. "Geisteskrankheit" ist eine Metapher. Ein Geist kann nur in dem Sinne ,,krank" sein wie schwarzer Humor ,,krank" ist oder die Wirtschaft ,,krank" ist. 

> 3. Psychiatrische Diagnosen sind stigmatisierende Etiketten; sie sollen an die medizinische Diagnosepraxis erinnern und werden Menschen angehängt, deren Verhalten andere ärgert oder verletzt. 

> 4. Gewöhnlich werden Menschen, die unter ihrem eigenen Verhalten leiden und darüber klagen, als ,,neurotisch" und jene, unter deren Verhalten andere Leiden und über die sich andere beklagen, als ,,psychotisch" bezeichnet. 

> 5. "Geisteskrankheit" ist nicht etwas, was eine Person hat, sondern etwas, was sie tut oder ist. 

> 6. Wenn es keine ,,Geisteskrankheit" gibt, kann es keine ,,Hospitalisierung", ,,Behandlung" oder ,,Heilung" von ,,Geisteskrankheiten" geben. Menschen können mit oder ohne Eingreifen des Psychiaters ihr Verhalten oder ihre Persönlichkeit ändern. Solche Eingriffe nennt man heute ,,Behandlung". Die Veränderung, wenn sie in einer von der Gesellschaft gebilligten Richtung verläuft, heißt ,,Genesung" oder ,,Heilung". 

> 7. In die Strafrechtspraxis eingedrungene psychiatrische Vorstellungen - z.B. Antrag auf Unzurechnungsfähigkeit' Gutachten über das seelisch-geistige Unvermögen des Beklagten, einen Prozeß durchzustehen, usw. - korrumpieren das Recht und machen die Bürger, derentwegen sie vorgeblich herangezogen werden, zu Opfern. 

> 8. Persönliches Verhalten folgt stets Regeln, ist strategisch und sinnvoll. Soziale Beziehungen können als Spiele betrachtet und analysiert werden, wobei das Verhalten der Spieler von ausdrücklich formulierten oder stillschweigend wirksamen Spielregeln gelenkt wird. 

> 9. Bei den meisten Arten von freiwilliger Psychotherapie versucht der Therapeut dem Behandelten die unausgesprochenen Spielregeln, nach denen er sich richtet, zu erläutern und ihm bei der Überprüfung der Ziele und Werte der von ihm praktizierten Lebensspiele zu helfen. 

>> Es gibt keine medizinische, moralische oder juristische Rechtfertigung für unerbetene psychiatrische Eingriffe wie ,,Diagnose", ,,Hospitalisierung" oder ,,Behandlung". 
Sie sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit. << 


Buchauszug aus: Josef Rattner (Herausgeber) „Wandlungen der Psychoanalyse", Europa Verlag

Autor: Ronald Wiegand

Thomas S. Szasz

Biographischer Hinweis

Thomas Stephen Szasz wurde am 15.  April 1920 als jüngerer Sohn der Eheleute Julius und Lilly Szasz geboren.  Im Jahr 1938, also noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, in den Ungarn 1941 auf deutscher Seite eintrat, gelangte er in die USA.  Dort wurde er 1944 naturalisiert.  Szasz heiratete 1951 Rosine Loshkajian und wurde Vater zweier Töchter, Margot und Susan.  Die Ehe wurde 1970 geschieden. 
Seine wissenschaftliche Ausbildung begann Szasz mit einem Medizinstudium in Cincinnati, das er 1944 mit der Promotion zum Dr. med. abschloß.  In Boston und Chicago qualifizierte er sich weiter im Fach Innere Medizin und Psychiatrie und absolvierte von 1947 an eine psychoanalytische Ausbildung am Chicagoer Psychoanalytischen Institut.  Von 1951 bis 1956 gehörte er dessen Lehrkörper an. 
Etwa 1948/49 eröffnete Szasz eine ärztliche Praxis, in der er sich auf psychiatrische und psychoanalytische Behandlungen spezialisierte. 1954 verließ er Chicago, übersiedelte zunächst nach Bethseda, Maryland, um sich 1956 endgültig in Syracuse, Staat New York, niederzulassen.  Hier erhielt er im gleichen Jahr eine Professur für Psychiatrie an der State University of New York in Syracuse.  Diese Funktion und Stelle füllt Szasz bis heute aus.  Er entwickelte in deren Rahmen eine große schriftstellerische Produktivität, die heute - nach fast fünfundzwanzig Jahren - auf über dreihundert Artikel und fünfzehn Buchtitel angewachsen ist.
 

Wissenschaftspolitisch ist Szasz vor allem als Kritiker psychiatrischer Zwangspraktiken hervorgetreten.  Er ist Mitbegründer und Vorstandsmitglied der amerikanischen Vereinigung zur Abschaffung der Zwangseinweisung in Nervenheilanstalten.  Obwohl er sich mit seinen kritischen Äußerungen über Gerichts- und Anstaltspsychiatrie, über Praktiken des psychoanalytischen Establishments in den USA, über die Analogien zwischen Hexenverfolgung bzw.  Inquisition im Mittelalter und den medizinisch verbrämten Mißhandlungen sogenannter geisteskranker Menschen im Rahmen der modernen Anstaltspsychiatrie viele Feinde geschaffen hat, wurde Szasz - wohl nach der Devise »Viel Feind', viel Ehr'« - auch sehr geehrt.  Seit 1962 ist er Gastprofessor an der Universität Wisconsin in Madison, seit 1968 an der Marquette University in Milwaukee.  Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Ehrenmitgliedschaften.  Man hat nicht den Eindruck, daß Szasz sich bei Erreichen der Altersgrenze - zur Ruhe setzen wird. 

Der eingebildete Kranke

 Schon Szasz' frühe Arbeiten zeigen eine entschiedene Frontstellung gegen die medizinische Zunft, wo diese ihre Zuständigkeit über die Grenzen objektivierbaren körperlichen Krankheitsgeschehens ausdehnt.  Das engere Thema, von dem her er seinen Angriff zunächst fährt, ist der körperliche Schmerz.  Ein Mensch, der über Schmerzen klagt, gilt für gewöhnlich als krank.  Gleichzeitig ist jedoch Schmerz als medizinischer Befund im strengen Sinn nicht zu demonstrieren, denn es fällt schwer, anderes als Schlußfolgerungen anzubieten, wenn wir uns auf die Mitteilungen des Leidenden selbst nicht verlassen wollen.  Meist begnügen wir uns, die Wirksamkeit einer medizinischen Behandlung daraus abzuleiten, daß empfundene Schmerzen durch sie beseitigt oder gelindert werden.
 

In einer frühen Arbeit von 1957 über Pain and Pleasure hat sich Szasz mit Fällen beschäftigt, in denen für empfundene Schmerzen keine zugrunde liegende körperliche Erkrankung feststellbar ist und der Schmerz nicht auf die Behandlung anspricht.  Solche schmerzgeplagten Patienten konfrontieren den Arzt mit Schmerzen, genauer: mit ihren Klagen über Schmerzen, die dieser nicht beseitigen kann.  Damit machen sie den Arzt selbst zum Leidenden ob seiner eigenen Ohnmacht.  Oft handelt es sich um Patienten, die schwer depressiv sind und die offenkundig die Rolle des Leidenden und Kranken für sich akzeptiert haben.  Hier ist die Frage, wem der Arzt eigentlich helfen, wessen Schmerz er lindern soll: den des Patienten, der sein Leiden als Teil der eigenen Identität empfindet?  Den der Anverwandten, die unter den ständigen Klagen des Patienten stöhnen?  Oder seinen eigenen, der aus der Unfähigkeit resultieren mag, wirksam zu helfen? - Auffällig an solchen schmerzgeplagten Patienten ist meist, daß sie bereits eine »Karriere« als Leidende hinter sich haben.  Früher waren sie vielleicht einmal Jurist oder Architekt, Busfahrer oder Kaufmann, Fotomodell oder Dienstmädchen.  Ihre Leidenslaufbahn begann, als die Berufsrolle den gewünschten Erfolg nicht brachte oder nicht mehr durchzuhalten war.
 

Inspiriert von Sartres Theorie der Emotionen (1939) wendet Szasz sich gegen den Brauch der Ärzte, derartige Patienten an Psychiater zu überweisen, damit diese sie als hysterisch, hypochondrisch, schizophren oder depressiv diagnostizieren und entsprechend »behandeln«.  Diese ärztliche Strategie scheint ihm unlogisch, wenn der betreffende Personenkreis sein Leiden tatsächlich gewählt hat wie der Mathematiker die lebenslängliche Beschäftigung mit algebraischen Problemen oder wie ein Politiker, der den unermüdlichen Kampf gegen »Kommunisten« oder »Faschisten« auf sein Panier geschrieben hat.  Früher nannte man solche Personen, die nur ein hervorstechendes Interesse im Leben kennen, »monomanisch«.  Zu ihnen gehörten die Figur des besessenen politischen Führers, die des religiösen Eiferers und auch die des Agitators, der nicht nach Lösungen für Probleme sucht, sondern der Probleme findet oder auch erfindet, für die er bereits fix und fertige Lösungen besitzt. - Wie sehr der an unheilbaren Schmerzen leidende Patient seine Leidensrolle selbst wählt und zur Leidenschaft erhebt, erhellt für Szasz aus dem konträren Fall.  Selbst schwere chronische Körperkrankheiten müssen nicht zu einer Leidenskarriere fahren, wenn der Betroffene etwas Besseres mit seinem Leben anzufangen weiß, als zu leiden.  Sigmund Freud z. B. lebte trotz seines Mundhöhlenkrebses hingebungsvoll seiner Arbeit; er war jedoch hypochondrisch in jüngeren Jahren, als Erfolg und Bedeutung seines Lebenswerkes noch unsicher waren.
 

Der Fall des »Kranken aus Leidenschaft« wird kompliziert durch den Umstand, daß viele Ärzte ihren Beruf zugleich als Berufung auffassen.  Sie haben sich seit ihrer Jugend leidenschaftlich der Idee verschrieben, Schmerzen anderer lindern zu können, und sie haben in Hinsicht auf dieses Ziel Strategien erlernt und entwickelt, wie man entweder durch reflektierte Hinnahme, Verständnis und Ablenkung mit Schmerzen fertig werden kann oder aber wie Schmerzen sich direkter durch Suggestion, Medikamente und schließlich Chirurgie wirksam bekämpfen lassen.  Treffen sie nun auf Patienten, für deren Schmerzen sich keine organischen Befunde ergeben, die jedoch zugleich allen Bemühungen des Arztes trotzen, so ersparen sie sich das Eingeständnis ihrer Rat- und Hilflosigkeit, ja ihrer Niederlage im Kampf gegen den Feind, indem sie von »psychogenen« Schmerzen sprechen und bei dem widerständigen Patienten eine »psychische Erkrankung« diagnostizieren, für die der Kollege von der Psychiatrie zuständig ist.  Szasz sieht hierin eine Täuschung der Patienten durch die Ärzte und eine intellektuell unzulässige Ausweitung des Krankheitsbegriffs.  So wenig es bei einem auf der Bühne gespielten Mord ein wirkliches Opfer gibt, so wenig gibt es für ihn bei seelisch bedingten Schmerzen eine Krankheit.  Wenn ein Patient Schmerzen simuliert, spielt er nur die Rolle eines Patienten.  Ein behandelnder Arzt wiederum, der den Simulanten als krank akzeptiert, spielt dabei die Rolle eines Psychotherapeuten oder Psychiaters. Dieser seinerseits, insofern er vorgibt, eine Krankheit zu behandeln, spielt die Rolle eines 0rganmediziners, ohne tatsächlich ein organisches Geschehen vor sich zu haben.  Eine Rollenkonfusion ist die Folge:

Es ist, als ob Detektive und Theaterkritiker einerseits, Gangster und Schauspieler auf der anderen Seite sich vermischen und ihre Rollen untereinander austauschen würden. (Szasz 1968; Übers.  R. W.)

L'Homme douloureux, der Schmerzensmann, ist in Szaszscher Deutung ein Lebensentwurf, der im christlichen Abendland gleichwertig neben dem homo politicus der athenischen Polis und dem homo oeconomicus des 18. und 19.  Jahrhunderts rangiert.  Leidend ist er bestrebt, sich über die zu erheben, die nicht zu leiden vermögen.  Leiden ist eine Existenzweise, die die ganze Persönlichkeit durchdringt und auch von der ganzen Person getragen wird.  Das Leben Jesu steht als Zeichen dafür, wie durch grenzenloses Leiden die Menschheit von ihrer Sünde befreit und der Leidende erhöht werden kann.  Auch die Jungfrau Maria wurde und wird als Mater Dolorosa, als Leidensmutter, gesehen. - Auf der anderen Seite zeigt der Liberalismus als Weltanschauung des im Kampf gegen die Kirche aufgekommenen Bürgertums eine konträre Weltbeziehung: zivilisatorischer Fortschritt ist hier gleichbedeutend mit der Verringerung des in der Welt vorhandenen Leidens.  Aus der Sicht moderner Reformer, seien sie ökonomisch, politisch oder psychotherapeutisch orientiert, erscheinen die Leidenden stets als »Opfer«, die ihrer genuinen Rechte beraubt wurden.  Das Spektrum reicht von den Mitgliedern unterentwickelter Nationen über die psychisch Kranken bis zu den Kriminellen; die Ursachen der stets passiv erlittenen Mißgeschicke reichen von Tyrannen über Mikroben bis zu den abnormen Chromosomensätzen der Gewaltverbrecher. 

Der schöpferische Aspekt des Leidens bleibt dieser Sichtweise vollkommen fremd. 
Den mit dem Liberalismus verbundenen Eifer, die Welt zu verbessern, sieht Szasz in Gestalt der verschiedenen Feldzüge am Werk, mit denen in den USA der Kampf gegen Feinde wie Furcht, Krankheit, Not und Armut geführt wird.  Der Arzt wird in dieser Wirklichkeitsauffassung zum General, der gegen Krankheit und Schmerz Krieg fährt und dabei über ein ständig modernisiertes Waffenarsenal an Medikamenten und Operationstechniken verfügt.  In der Gemeindepsychiatrie mündet diese Kriegsperspektive für Szasz in direkte soziale Gängelung: modernes Sozialtherapeutentum tritt in der Tradition allen politisch-bürokratischen Denkens als Jagd nach Opfern und ihren Vergewaltigem in Erscheinung.  Die verabreichten Wohltaten wirken für die »Opfer« häufig herber und verletzender als die vormalige Vernachlässigung.  Dem Individuum wird mehr und mehr die Kompetenz abgesprochen, seine eigenen Lebensverhältnisse zu beurteilen.  Die therapeutischen Ziele einer so verstandenen medizinischen Betreuung sind bei alledem nur scheinbar so »gut«, wie dies die Reformbegeisterten naiv annehmen.  Tatsächlich steckt hinter dem unermüdlichen Reformeifer das nur schwach verhüllte Verlangen nach Kontrolle.  Die Beherrschung des »Patientenguts« funktioniert im medizinischen Bereich reibungslos, wo Menschen willig und bereit sind, die Patientenrolle zu spielen, damit die Ärzte den Diagnostiker und Therapeuten spielen können.  Das Autoritätsverhältnis zwischen beiden Seiten ähnelt dabei der Beziehung, die in der religiösen Welt des Mittelalters zwischen Priester und Gläubigen bestand.
 

Nichts hassen die modernen Mediziner dagegen so sehr wie Patienten, die sich weigern, brav die Patientenrolle zu spielen.  Prototyp solcherart unwilliger Patienten ist für Szasz in den sechziger Jahren die »delinquente« Jugend.  Studentenprotest wird von gar nicht wenigen Psychologen und Psychiatern als Ausdruck einer grundlegenden charakterlichen Deformation gewertet, an der die jungen Leute leiden.  Für Szasz leiden aber weniger die unruhigen jungen Leute daran als vielmehr Schulleiter, Universitätsrektoren und Psychiater.  Aus deren Sicht ist die Unwilligkeit der Jungen, sich in die Krankenrolle zu begeben und damit den Ärzten auszuliefern, ein gefährliches Zeichen.  Die besorgten Warnungen lassen ahnen, wohin sie die Gesellschaft im ganzen ziehen möchten: den Individuen soll das unveräußerliche Recht auf Leiden verweigert und sie sollen gezwungen werden, sich standardisierten Behandlungen zu unterziehen, die vom bürokratischen Wohlfahrtsstaat im Namen von Freiheit und Gesund-heit verabreicht werden.
 

Szasz wirft die Frage auf, warum Ärzte sich wohl so hartnäckig weigern, Leiden als einen in sich sinnvollen Lebensent-wurf zu akzeptieren.  Schließlich nehmen sie es hin, wenn ein verliebter Mann seine Geliebte für den wunderbarsten Menschen der Welt hält und sie heiratet, obgleich eine nüchteme Betrachtung den Befund nicht unbedingt bestätigt. Ärzte und Nicht-Ärzte nennen dies »Liebe« und sehen für gewöhnlich keinen Grund zum Einschreiten.  Desgleichen spricht man von »Patriotismus«, wenn ein junger Mann den Präsidenten seines Landes für einen großen Führer hält und sich von ihm willig in den Krieg schicken läßt.  Aber wenn jemand sich einbildet, sein Körper sei krank, und über Schmerzen klagt, weigern wir uns zu akzeptieren, daß jemand es anziehend findet, sich als krank zu betrachten, obwohl die Tatsachen seinem Wunsch nicht entsprechen - und werden tätig.  Für Szasz ist das so unsinnig, als würde jemand nach einem auf der Bühne vorgeführten »Mord« die Polizei rufen, statt zu applaudieren oder seinen Unmut kundzugeben. Ärzte, die eingebildete Kranke als krank akzeptieren, verhalten sich wie ein Museum, das gefälschte Rembrandts als echte Meisterwerke akzeptiert und in einem gesonderten Raum ausstellt, während in einem anderen die echten Rembrandts zu besichtigen sind.  Nach dieser Logik wird jedenfalls im modernen Krankenhauswesen verfahren, indem es Abteilungen für Organkranke und Abteilungen für falsche Organkranke gibt.  Für die Ärzte ist solche Ausweitung ihres Kompetenzbereichs lukrativ.  Das Konzept der »krankhaften« Einbildung gibt einer ganzen Armee von Fachärzten, den Psychiatern, Arbeit und Brot. 

Die Regeln des Krankheitsspiels

Den literarischen Durchbruch in der wissenschaftlichen Welt erzielte Szasz 1960/61 mit einem Aufsatz und einer nachfolgenden Buchveröffentlichung über den Mythos der Geisteskrankheit.  Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist darin die Konversions-Hysterie, bei der bekanntlich seelische Konflikte in Form körperlicher Krankheits- oder Ausfallssymptome verarbeitet werden, ohne daß für die funktionellen Störungen des Körpergeschehens »handfeste« organische Ursachen zu finden sind.  Szasz zielt auf das Zusammenwirken von Ärzten und Hysterie-Patienten und untersucht die Frage, wem aus dieser Interaktion eigentlich Vorteile und Nachteile entstehen.  Die physiologisch-funktionelle Störung, welche als Krankheitsgeschehen Aufmerksamkeit erheischt, beruht nicht auf anatomischen Normabweichungen, sondern ist Ausdruck sozialer Störungen im Verkehrskreis des betreffenden Patienten.  Indem aber ein sozialer Konflikt mit medizinischen Maßnahmen beigelegt werden soll, wirken Arzt, Patient und eventuell die Auftraggeber des Arztes bei der Vertuschung der zwischenmenschlichen Seite des Geschehens zusammen.  Szasz mißt dem Begriff der »psychischen Erkrankung« bzw. dem der »Geisteskrankheit«, zu denen sich der Hysteriebegriff in unseren Tagen ausgewachsen hat, nicht mehr Realitätsgehalt bei als dem Teufels-, Hexen- und Dämonenglauben des Mittelalters. 

Worin besteht dann aber der Fortschritt gegenüber jenen mittelalterlichen Zeiten, in denen die »Besessenen« mit Kriminellen und Obdachlosen zusammengefaßt und gefangengehalten wurden, wenn ihnen nicht Schlimmeres widerfuhr? 
In einer Würdigung der historischen Leistungen Charcots, Kraepelins, Breuers, Freuds und anderer Pioniere der Psychiatrie und der Tiefenpsychologie gelangt Szasz zu dem Ergebnis, daß das wesentliche Verdienst dieser Männer darin besteht, den Leidenden, die körperliches Kranksein nur spielten, den Ruch des Betrügers genommen und ihnen ihren Zustand erträglicher gestaltet zu haben.  In einem Vergleich mit dem französischen Arzt Guillotin, der während der Französischen Revolution die Verwendung des nach ihm benannten mechanischen Fallbeils durchsetzte, weil es den Verurteilten einen relativ schmerzlosen und damit weniger grausamen Tod schenkte, kommt Szasz zu der Feststellung:

Kurz und bändig formuliert: Guillotin erleichterte den Verurteilten das Sterben, und Charcot erleichterte dem Leidenden (damals gemeinhin Simulant geheißen) das Kranksein.  Im Hinblick auf die Hilf- und Hoffnungslosen könnte man das als echte Errungenschaft bewerten.  Dennoch bleibe ich bei der Ansicht, daß Guillotins und Charcots Interventionen keine Befreiungstaten waren, sondern eher Betäubungs- oder Beruhigungsverfahren. (Szasz 196 1, S. 42)

Wer aber wurde durch die Vertreter des Konzepts »Geisteskrankheit« beruhigt?  Für den durch die Guillotine Hingerichteten mögen die damit verbundenen »Vorteile« höchst relativ sein angesichts des Verlusts seines Lebens.  Demnach dient das humanere Hinrichtungsverfahren offenbar der Gewissensentlastung des Publikums und der ausführenden Organe.  In Hinsicht auf die »Simulanten«, welche ihre Umwelt mit ständigen Klagen belästigen und ihr mit mancherlei Unfähigkeiten zur Last fallen, dürfte die Beruhigung durch Charcots Reformen vor allem darin gelegen haben, daß die nunmehr als »Patienten« eingestuften Personen zwar auch aus dem Verkehr gezogen, jedoch weniger grausam behandelt wurden.
 

Was war erforderlich, um aus einem Simulanten, der Krankheit nur spielt, einen »echten« Patienten zu machen?  Szasz verdeutlicht den Beitrag Sigmund Freuds zur Lösung dieser Frage durch eine Reflexion über das Wesen des Falschgeldes.  Falschgeld ähnelt - mehr oder weniger stark - dem echten Geld, an dessen Stelle es in Umlauf gebracht wird.  Es kommt jedoch auf den jeweiligen Kontext an, ob die Ver-wendung von Falschgeld strafwürdig ist oder nicht.  Zum Beispiel wird im Theater für gewöhnlich auch falsches, nämlich »Theatergeld«, im Rahmen der Spielhandlung verwendet.  Darüber sind sich die Schauspieler ebenso im klaren wie das Publikum, ohne daran Anstoß zu nehmen.  Denkbar ist, daß durch Zufall oder gewollte Täuschung sehr echt wirkendes Theatergeld in den allgemeinen Geschäftsverkehr gelangt, womit es zu Falschgeld würde.  Auch umgekehrt wäre möglich, daß irrtümlich echtes Geld als Theatergeld betrachtet und behandelt wird. - Auf das Hysterieproblem angewandt, zieht Szasz aus diesen Überlegungen den Schluß, daß auch hier der Kontext entscheidend ist, in dem ein Patient über Symptome einer »unechten Krankheit« klagt.  Sobald dies nämlich in einer Arztpraxis geschieht, hängt es offenbar von der Reaktion des Arztes ab, wie die »Aufführung« des »Patienten« bewertet wird.  Freuds genialer Einfall bestand darin, die Simulationen der »Patienten« als eine unwissentliche Verwendung von Theatergeld im allgemeinen Geschäftsverkehr zu interpretieren (Begriff des »Unbewußten«).  Damit wurde das Unakzeptable im Verhalten des Betreffenden zugleich anerkannt und der moralischen Anrüchigkeit entkleidet.
 

Für Szasz jedoch ist mit dieser Aufklärung der Stein des Anstoßes, der im Begriff der »Geisteskrankheit« liegt, keineswegs beseitigt, denn es liegt ja trotz der ärztlichen Bereitschaft, auf das vom Patienten angebotene Spiel einzugehen, im Fall der Simulation keine »echte«, d. h. organische Krankheit vor.  Demnach gehört das in der Simulation gegebene Problem auch nicht in die Zuständigkeit von Ärzten, die doch körperliche Erkrankungen beseitigen oder ihren Verlauf mildem und abkürzen sollen.  Die Beschäftigung mit der symbolischen Nachbildung von Krankheiten (Theatergeld/Falschgeld) gilt aber gleichwohl als Gegenstand einer medizinischen Spezialdisziplin.  Die Differenz, die hier verleugnet wird, liegt für Szasz in der Tatsache, daß z. B. ein Diphtheriebelag im Hals eines Kranken stets das gleiche Aussehen zeigt, gleichgültig, in welchem Jahrzehnt oder Jahrhundert er auftritt; gleichgültig, welche politische Situation im Lande seines Auftretens herrscht; gleichgültig, welcher sozialen Schicht der Erkrankte zuzurechnen ist.  Während deshalb die Behandlungsstrategie der Ärzte im Fall der Diphtherie - in technischer Hinsicht - ausschließlich von dem gegebenen Kenntnisstand abhängt, wird sie im Fall einer gespielten Krankheit wesentlich von dem sozialen, politischen und historischen Kontext bestimmt, in dem sich Arzt und »Patient« gegenübertreten. 

In einem Vergleich der westeuropäischen Medizin des 19. Jahrhunderts, der medizinischen Praxis in den heutigen westlichen Demokratien und des Arztwesens in der Sowjetunion zeigt Szasz auf, daß der Arzt dort am eindeutigsten vom Interesse des Patienten her in seinem Tun und Lassen bestimmt wird, wo der Patient ihn direkt für seine Leistungen honoriert (und dazu finanziell in der Lage ist).  Weniger günstig - aus der Sicht des Patienten - erscheint ein durch Versicherungen geregeltes Verhältnis zum Arzt, weil das Interesse der Krankenkasse an einer ökonomischen Verwendung ihrer vertraglich beanspruchten Leistungen die Handlungsfreiheit des Arztes einschränken kann.  Dies wird um so weniger der Fall sein, je eindeutiger, objektiver und mithin gesellschaftlich akzeptabler das Leiden des Patienten ist.  Am ungünstigsten für den Fall simulierter Krankheitssymptome ist ein Arzt-Patient-Verhältnis, bei dem - wie in der Sowjetunion - der Arzt im Auftrag des Staates, der Gesellschaft oder der Partei handeln soll, diesen Instanzen allein verantwortlich ist und ausschließlich von ihnen honoriert wird.
 

Die volle Autonomie des Patienten gegenüber dem Arzt ist nur in der Zwei-Personen-Praxis auf vertraglicher Grundlage gewahrt.  Die Schweigepflicht des Arztes und der Ausschluß dritter Personen ermöglichen es dem Patienten, dem Arzt auch die für ihn peinlichen Angelegenheiten anzuvertrauen, ohne für sich schädliche Folgen befürchten zu müssen.  In etwas geringerem Maße wird auch der Arzt durch das Zwei-Personen-Arrangement geschätzt.  Der manchmal erhobene Vorwurf falscher Behandlung zieht im Fall eines Einwirkungsrechts Dritter mindestens zeitraubende Befragungen und Schreibereien nach sich.  In der Sowjetunion ist es für die Ärzte sogar berufsgefährdend, Simulanten den Patientenstatus zuzuerkennen und sich damit zum Komplizen ihrer möglichen Arbeitsunwilligkeit zu machen. 

Es besteht die Möglichkeit, daß sie in ihrer Arbeit durch Schein-Patienten auf ihre Bereitwilligkeit überprüft werden, sich auf derartige Bündnisse gegen die Interessen der staatlichen Bürokratie an hohen Arbeitsergebnissen einzulassen. - Aus einer etwas anders gelagerten Perspektive war es für Freud und Breuer seinerzeit vorteilhaft, die Erforschung der Hysterie und später allgemein die Neurosenforschung als eine Suche nach orga-nischen Ursachen des vom Patienten oder seiner Umwelt beanstandeten Verhaltens zu organisieren.  Psychiatrie und Psychoanalyse profitierten auf diese Weise von der sozialen Anerkennung, die die chemo-physikalischen Wissenschaften in der europäisch-amerikanischen Kulturwelt gewonnen hatten.  Das Eingeständnis der moralischen, politischen und religiösen Dimension der sogenannten Geisteskrankheiten, wie Szasz es bei Harry Stack Sullivan und W. R. D. Fairbairn eingeleitet sieht, bringt dagegen für die mutigen Vertreter solcher Erkenntnis die mißliche Notwendigkeit mit sich, einer naturwissenschaftlich voreingenommenen Öffentlichkeit die Existenz und Berechtigung nichtphysikalistischer Wissenschaftsrichtungen plausibel zu machen. 

»Geisteskrankheit« als Sprache

Szasz ist nicht so borniert zu behaupten, daß die geistig-seelischen Ereignisse und Verhaltensweisen, die zusammenfassend Geisteskrankheiten genannt werden, keinerlei neuro-physiologische Korrelate besitzen:

Wenn eine Person - sagen wir, ein Engländer - sich entschließt, Französisch zu lernen, werden in seinem Gehirn im Zuge des sprachlichen Lemprozesses höchstwahrscheinlich gewisse chemische (oder andere) Veränderungen Platz greifen.  Gleichwohl halte ich es für falsch, aus dieser Annahme zu folgern, daß die wichtigsten oder nützlichsten Aussagen über diesen Lernprozeß in der Sprache der Chemie formuliert werden mußten.  Doch genau das behauptet der Organiker. (Szasz 1961, S. 110)

Er will mit dem Vergleich des Erlernens einer fremden Sprache deutlich machen, daß die rein somatischen Prozesse zwar vorhanden, für das angemessene Verstehen des Lemprozesses jedoch nicht wesentlich sind.  Ebenso gilt in seiner Sicht für die sogenannten Geisteskrankheiten, speziell für die Hysterie, daß sie wesentlich als eine unreflektierte Weise des Sich-Mitteilens aufzufassen sind.  Hierfür schlägt er den Ausdruck »Proto-Sprache« vor.  Proto-sprachlich sind Miteilungen, die ein menschlicher »Sender« ausstrahlt und die ein anderer als »Empfänger« sinngemäß auffaßt, ohne daß der Sender (oder beide Beteiligten) ein begleitendes Wissen des ablaufenden Kommunikationsprozesses besitzt. 

Die Mitteilungen werden hier in ähnlicher Weise gegeben, wie uns eine dunkle Wolkenbank »mitteilt«, daß es womöglich gleich regnen wird.  Eine als hysterisch klassifizierte Person teilt uns zum Beispiel nicht in Worten mit, sie habe eine Äußerung ihres Vorgesetzten wie einen Schlag ins Gesicht empfunden, sondern sie präsentiert uns eine schmerzende Wange und läßt uns erraten, was damit »gemeint« ist. 
Proto-sprachliche Mitteilungen sind mehrdeutig: mehr affektbezogen als verstandesbetont; sie liegen näher bei Kunst, Spiel, Musik, Tanz, Ritus als bei Wort, Schrift und Zahl. 

Der Vorteil gegenüber diskursiven Formen der Kommunikation liegt für den Sender darin, daß er nicht »beim Wort genommen«, nicht eindeutig zur Verantwortung gezogen werden kann.  Proto-sprachlich lassen sich Bedürfnisse ausdrucken und gleichzeitig dementieren.  Es leuchtet ein, daß diese andeutende Kommunikationsweise vor allem in zwischen-menschlichen Situationen von Nutzen ist, in denen ein offenes Aussprechen bestimmter Wünsche oder Ärgernisse unwirksam oder unvorteilhaft wäre: in den westlichen (und sozialistischen) Leistungsgesellschaften sind es vor allem Bitten um Zuwendung und Hilfe, für die der Empfangende nicht angemessen bezahlen kann oder will. 

Wer kein Kind mehr ist und dennoch den Erlaß üblicher Pflichten erwirken möchte; wer sich beruflich oder familiär überfordert fühlt, ohne auf Nachsicht seiner Umgebung zu rechnen - der kann am ehesten noch in proto-sprachlicher Form für sein Anliegen Gehör finden, indem er spricht: »Ich will ja, aber ich kann nicht; mit mir ist etwas nicht in Ordnung; mir geht es schlecht, ich leide.« Auf der Empfängerseite verlangt diese Strategie allerdings eine Person, die die »Grammatik« des verwendeten Idioms beherrscht: die Mutter, die Ehefrau, den Ehemann, die größeren Kinder oder den wohlwollenden Hausarzt.

Wenn eine Frau, die sich überlastet fühlt oder mit ihrem Leben unzufrieden ist, sich ihrem Gatten durch Symptome wie Kopfweh, Rückenschmerzen oder Menstruationsbesibwerden mitteilt, erreicht sie vielleicht, daß der Mann sich etwas mehr um sie kümmert und ihr mehr beisteht.  Und wenn nicht der Mann, dann vielleicht ihr Arzt, und wenn auch der nicht, dann vielleicht ein Spezialist, an den er sie überweist.  Und so weiter. (L. c. S. 134)

Szasz legt den Akzent seiner weiteren Analyse des Begriffs Geisteskrankheit auf die historischen Ursprünge jener Haltungen, die durch vorgezeigte Hilflosigkeit - vor allem in Form körperlichen Behindertseins wie in der Hysterie - die Umwelt zu kontrollieren trachten.  Er sieht zwei hauptsächliche Quellen.  Die eine beruht in der Fürsorge-Funktion, die Eltern überall auf der Welt für die noch unselbständigen Kinder ausüben.  Die andere liegt in der christlichen Tradition, die Werte wie Selbsthilfe, Tüchtigkeit, Effektivität sowie Stolz auf Gesundheit und Wohlbefinden als Frevel brandmarkt und statt dessen Armut, Unselbständigkeit (Gehorsam) und körperfeindliches Verhalten (Keuschheit) predigt. 

So gibt es einerseits Eltern, die ein lern- und leistungsbereites Verhalten ihrer Kinder fortgesetzt behindern, indem sie Äußerungen von Hilflosigkeit und Abhängigkeit belohnen, um dadurch ihre eigene Wichtigkeit und Selbstachtung zu steigem.  Für die christliche Religion andererseits gilt, daß deren Hochschätzung der Demütigen, Sanftmütigen, Bedürftigen und Gottesfürchtigen ursprünglich ein defensiver Schachzug war, um im Rahmen einer Sklavenhaltergesellschaft die Abhängigen vor dem Neid und der allzu brutalen Ausbeutung durch die Mächtigen zu schützen.  Außerdem gab es innerhalb des römischen Imperiums zahlenmäßig viel mehr Arme, Kranke und Unterdrückte, denen das Versprechen spontan einleuchten mochte, sie würden am Tag des Jüngsten Gerichts im umgekehrten Verhältnis zur Erbärmlichkeit ihres irdischen Daseins belohnt.
 

Für die christliche Wertwelt gilt, wie für jedes andere gesellschaftliche Normsystem, daß diejenigen Anerkennung und Prestige gewinnen, die die kollektiven Verhaltensregeln be-sonders eifrig und pünktlich befolgen, während Abweichler und Laue mit Geringschätzung oder sogar Bestrafung zu rechnen haben.  Wer demnach in den Jahrhunderten des europäischen Mittelalters durch Armut, lebenslange Plackerei, durch Mißachtung der eigenen Gesundheit und willige geistige Unterwerfung hervorstach, der konnte auf Anerkennung rechnen.  Wer jedoch in Verdacht geriet, eigenmächtig zu handeln oder zu denken; wer vielleicht als Frau durch Schönheit des Leibes auffiel oder als jüngere Witwe den Plackereien der Ehe -und Mutterschaft weniger unterworfen war - der konnte leicht in den Verdacht der Ketzerei geraten und als Hexe oder Hexenmeister die »verdiente« Behandlung erleiden. Szasz bezweifelt nicht, daß die Hexenverbrennungen, die Foltern und sozialen Diskriminierungen dem Zweck dienten, die christlichen »Tugenden« im öffentlichen Bewußtsein durch martialische Einschüchterung lebendig zu halten.  In unseren Tagen haben zwar die Werte gewechselt, sind die Etiketten andere geworden; aber die mittelalterlichen Formen des Umgangs mit dem gegen die herrschende Moral lebenden Mitmenschen haben sich in seinen Augen höchst unwesentlich geändert. 

Das Ideal des Mittelalters war der Heilige.  Das Ideal der heutigen Industriegesellschaften ist der gesunde, leistungsfähige und leistungsorientierte Mensch.  Wer sich mit Jogging und Diät um körperliche Fitneß bemüht; wer durch unermüdlichen Einsatz für die Firma, für die Familie, für die Wissenschaft, für das politische Gemeinwesen seine Unfähigkeit zur Muße dokumentiert, der kann auf hohe gesellschaftliche Anerkennung rechnen - und vom ersten Herzinfarkt als einer Art Tapferkeitszeichen berichten. Wer sonst krank wird oder den Richtsätzen der Sozialfürsorge unterliegt, kann noch auf eine stillschweigende Duldung und begrenzte Hilfe bei seinen Bemühungen rechnen, körperlich oder finanziell wieder zu gesunden.  Wer jedoch den Kranken mimt, um die Vorteile der Krankenrolle zu genießen; wer als Arbeitsloser versucht, bei den nachgewiesenen Arbeitsstellen abgewiesen zu werden, um weiter frei über die eigene Zeit zu verfügen - der darf des Unmuts der »anständigen« Gesellschaftsmitglieder gewiß sein.  Zwar werden solch störende, aus dem Schema fallende Individuen nicht mehr als Hexen und Hexenmeister verbrannt wie im Mittelalter.  Für Szasz ist aber die Anstaltspsychiatrie, die sogenannte Geisteskranke auch gegen ihren Willen festhält und »behandelt«, die modern drapierte Nachfolgerin der mittelalterlichen Inquisition.  Der Fortschritt, den Charcots, Breuers, Freuds und anderer Bemühungen um die Simulanten bedeutete, indem sie deren Klassifizierung als »Kranke« erreichten, erweist sich in seiner Sicht als bloßes Manöver, um diese Personengruppe unter dem Deckmantel medizinisch-psychiatrischer Behandlung weiterhin gefangenhalten und bestrafen zu können, weil sie dem gesellschaftlichen Wert Gesundheit (und Leistung) abhold zu sein scheint.
 

Szasz differenziert seine Kritik der modernen Psychiatrie und Psychoanalyse allerdings, indem er zwischen Anstaltspsychiatrie und anderen Psychotherapien unterscheidet, und zwar nach dem Kriterium, wieweit die Beziehung zwischen Arzt und Patient auf Freiwilligkeit und gegenseitiger Machtgleichheit beruht.  Zu diesem Zweck konstruiert er in Anlehnung an Piaget drei entwicklungspsychologische Stufen der Bemeisterung interpersonaler Prozesse: Zwang, Selbsthilfe und Zusammenarbeit. Zwangsstrategien setzen ein weitgehendes Machtungleichgewicht der beteiligten Parteien voraus.  Sie sind durch die Beherrschung der einen Seite durch die andere gekennzeichnet. Selbsthilfe als Hauptstrategie im Lebensspiel erfordert den Einsatz der ganzen Person.  Die Abkapselung gegen andere erfolgt hierbei über die monoma-nische Beschäftigung mit einem Lieblingsthema, wobei es von den gesellschaftlichen Wertmaßstäben abhängt, ob eine solche Sucht Anerkennung findet oder verurteilt wird. 

Szasz' Aufzählung wissenschaftlicher, künstlerischer, religiöser, neurotischer und psychotischer Beschäftigungen zeigt, welches Spektrum er im Auge hat.  Die Verkörperung der Krankenrolle gehört insoweit zu dieser Klasse der Selbsthilfe Strategien, als der einmal anerkannte Verkörperer dieser Rolle die Umwelt mit Hilfe der produzierten Symptomatik kontrolliert. - Zusammenarbeit ist die schwierigste und späteste Entwicklungsstufe menschlichen Zusammenspiels.  Sie setzt ein hohes Maß an Bewußtheit bezüglich der eigenen Spielgewohnheiten und der der anderen voraus und verlangt die Fähigkeit der Beteiligten, ihre nicht übereinstimmenden Absichten und Wünsche durch Verhandlungen und Kompromisse in Einklang zu bringen. Im Licht dieser Unterscheidungen notiert Szasz nun für die psychoanalytische Praxis, wie sie für die USA-Szene typisch ist, zwei entgegengesetzte Tendenzen: die eine befürwortet Psychoanalyse als eine menschliche Beziehung des Führer-Gefolgsmann- bzw.  Herrschafts-Unterwerfungs-Typs; die andere strebt Kooperation zwischen prinzipiell Gleichen als obersten Wert an.
 

Praktisch alle Schriften, die Szasz seit dem Mythos der Geisteskrankheit veröffentlicht hat, kreisen um das Thema einer »Psychotherapie mit menschlichem Antlitz« und sind der Kritik an jenen psychiatrischen und psychotherapeutischen Praktiken gewidmet, in denen die Entmündigung und Bevormundung des einzelnen durch eine obrigkeitlich organisierte und handelnde Ärzteschaft betrieben wird. 

Psychiatrie - die Tyrannei der Mehrheit

 1963 hat Szasz seine Kritik an der (USA-)Anstaltspsychiatrie in einem Buch zusammengefaßt, das in der deutschen Übersetzung Recht, Freiheit und Psychiatrie betitelt ist.  Zwei markante Sätze daraus vorweg als Kostprobe:

Wir sollten die Freiheit höher schätzen als geistige Gesundheit, ganz gleich, wie diese definiert wird. 
So wie die persönliche religiöse Überzeugung von der organi-sierten Religion unterschieden werden muß, muß man auch die private psychotherapeutische Situation von der Anstaltspsychiatrie unterscheiden. (Szasz 1963b, S. 295, 317) .

Als Philippe Pinel 1798 in der Pariser Irrenanstalt Bicetre einigen Patienten die Ketten abnahm, gab er weder eine Arznei, noch operierte er, sondern er gab eingesperrten Individuen ein Stück ihrer Freiheit zurück.  Esquirol und Ferrus (in der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts) waren tatsächlich Gefängnisreformer, und viele Psychiater waren und sind in Szasz' Augen tatsächlich verkappte Sozialreformer.  Wenn sie dabei mit Hilfe psychiatrischer Begriffe versuchen, sich über die moralische Dichotomie von Gut und Böse zu stellen, und angeblich im Namen der Vernunft sprechen, bieten sie eine verführerische Entlastung von Verantwortung an.  Damit stehen sie jedoch faktisch an der Seite der westlichen Hauptreligionen und der Faschisten und Kommunisten, die allesamt Systeme geistiger Führung für Unmündige vertreten.
 

Die drei Verhaltenskomplexe, an denen sich die Gesellschaft über die Psychiatrie in das Leben einzelner Mitbürger einmischt, sind sexuelle Abweichungen, Aggressionen gegen sich selbst und Aggressionen gegen sozial gleich- oder höhergestellte Personen.  Als Unterform der Aggression gegen andere ist die Nicht-Erfüllung sozialer Pflichten anzusehen, durch die Angehörige oder dritte Personen beeinträchtigt werden.  Weil das Verhalten »geisteskranker« Personen als störend oder ärgerlich empfunden wird, wird es von den »Normalen« mit Strafimpulsen beantwortet.  Recht besehen, bestand Charcots historische Leistung darin, die als Simulanten und Störer hart behandelten, eigentlich bestraften Personen in Kranke (»Hysteriker«) umzudefinieren und ihnen so ein Anrecht auf Schutz und Hilfe durch die Gesellschaft zu verschaffen.  Für Szasz hat diese einst fortschrittliche Maßnahme ihren Effekt inzwischen weitgehend eingebüßt, weil das Etikett »geisteskrank« in der modernen Psychiatrie ähnlich strafende »Behandlungen« nach sich zieht wie damals die Einstufung einer Person als Simulant.  Er vergleicht dieses Auf und Ab mit der gesellschaftlichen und religiösen Assimilation der Juden im 18. und 19.  Jahrhundert, die in der Folge ebenfalls durch einen wiedererstarkenden Antisemitismus rückgängig gemacht wurde.
 

In den USA werden annähernd 90% der Insassen öffentlicher Heilanstalten zwangseingewiesen.  Sie müssen sich dort Eingriffe gegen ihre Person und ihren Körper gefallen lassen, können nicht mehr frei mit der Umwelt kommunizieren und können in der Anstalt sogar entmündigt werden, mit allen vermögensrechtlichen und sozialen Konsequenzen.  Die Rechtfertigung derartiger Maßnahmen als »Therapie«, die angeblich nur dem Interesse des Patienten diene, hält Szasz für blanke Ideologie.  Denn zum einen gibt es nach wie vor kontroverse wissenschaftliche Meinungen darüber, was Psychotherapie eigentlich ist: manche Autoren verstehen darun-ter eine Art von Erziehung und sozialer Kontrolle, andere sehen in ihr eine Erweiterung des Selbst- und Umweltverstehens mit dem Ziel, die Aktionsmöglichkeiten des Patienten zu erweitern.  Die Praxis der Zwangseinweisung ist wohl mit dem ersteren Gedanken der »Sozialisierung« von Menschen vereinbar, nicht jedoch mit dem Ziel, Autonomie und Selbstkontrolle eines Menschen herzustellen oder wiederherzustellen. - Zum anderen verschlägt auch der Hinweis auf die Gefährlichkeit der »Kranken« nicht als Rechtfertigung für Zwangseinweisungen. 

Betrunkene Autofahrer sind sicherlich ebenso eine Gefahr für die Allgemeinheit, ohne deshalb hospitalisiert zu werden, und sehr viele politisch- militärische Führer der Menschheit müßten unter dem Gesichtspunkt ihrer Gefährlichkeit für andere viel eher zwangsverwahrt (statt geehrt) werden.  Als besonders verdächtig wertet Szasz in dem ganzen Zusammenhang die Tatsache, daß Angehörige der oberen sozialen Schichten faktisch gegen Zwangseinweisungen gefeit sind.  Diese gewinnen dadurch den Charakter eines Kampfinstruments im »Klassenkampf von oben«.  Die Gefährlichkeit psychiatrisierter Patienten wird meist stark übertrieben.  Wo aber sogenannte Geisteskranke tatsächlich Verbrechen begehen, sollen diese Taten abgeurteilt werden wie andere Verbrechen auch. 

Wo die Bestrafung eines »Geisteskranken« unterbleibt, weil dieser angeblich bereits durch sein Leiden gestraft ist, statt dessen aber die Zwangseinweisung verfügt wird, da erhält der Betroffene in Wahrheit eine weit schlimmere Bestrafung als der Rechtsbrecher, den man für strafrechtlich verantwortlich hält: jener wird nicht nur auf bestimmte, sondern auf unbestimmte Zeit eingesperrt; es gibt in der psychiatrischen Anstalt keine klar definierten Verhaltensregeln, durch deren Befolgung er zur Wiedererlangung seiner Freiheit beitragen kann; er verliert weitgehend seine bürgerlichen Rechte; und er muß oft mit Eingriffen gegen seinen Körper rechnen, die dem Gefängnisinsassen erspart bleiben.
 

Szasz hält ebenso die Einschaltung der Psychiatrie in den Rechtsprechungsprozeß für ein reines Übel.  Die sogenannte Schuldunfähigkeit, wie sie von Gerichtspsychiatern gutachtlich bescheinigt wird, mit der möglichen Folge der Entmündigung, wird nicht durch objektivierbare Tatbestände gestützt.  Würden nämlich die Geisteskrankheiten tatsächlich den Körperkrankheiten entsprechen, dann dürften sie nicht schuldentlastend wirken.  Werden sie aber als eine Form verminderten Bewußtseins aufgefaßt, dann sollte der Rechtsgrundsatz gelten, daß Unwissenheit nicht vor Strafe schützt.  Geistige Beeinträchtigungen sieht Szasz auch bei einer Putzfrau im Vergleich mit einem Universitätsprofessor vorliegen.  Wollte man solche schwer wägbaren Unterschiede in Bildung und intellektueller Gewandtheit zum Kriterium filr Verteidigungsfähigkeit machen, so »könnten wir das Recht auf ein ordnungsgemäßes Verfahren gleich den gebildetsten Mitgliedern der Gesellschaft vorbehalten«. 

Die »Erklärungen«, die von Gerichtspsychiatern zur Begründung der Schuldunfähig-keit von Angeklagten vorgetragen werden, stellen zeitliche Verkettungen von Ereignissen und Umständen als »Ursache« der beklagten Tat hin.  Dieses Schema gilt jedoch für sämtliche menschlichen Handlungen, so daß man bei seine Ver-wendung nie jemanden zur Verantwortung ziehen dürfte Bei finaler Betrachtung dagegen wird unterstellt, daß der Mensch immer, auch in aussichtslosen Situationen, Wahlmöglichkeiten besitzt und demnach für sein Handeln Verantwortung trägt.  Von Psychiatern kann man stets beide Arten von Gut-achten bekommen, es hängt nur davon ab, von wem sie beauftragt und bezahlt werden, denn: »ob ein Straffälliger geisteskrank ist oder nicht, entzieht sich der Feststellung, weil es überhaupt keine brauchbaren Normen psychischer Gesundheit gibt«.
 

Wenn ein Angeklagter, der ein Gewaltdelikt verübt hat, deshalb für geisteskrank erklärt und zwangsverwahrt wurde, muß er von hohem gesellschaftlichem Rang sein und über Vermögen verfügen, um wieder freizukommen.  Szasz vergleicht die Rolle der Psychiater bei ungerechtfertigten Einweisungen - innerhalb und außerhalb strafrechtlicher Zusammenhänge - mit der Rolle von Berufskillem innerhalb einer Gangsterorganisation.  So wie diese vor Gericht geltend machen, sie hätten im Auftrag gehandelt, und die Bosse sich damit verteidigen, sie hätten ja nicht geschossen - ebenso ergibt sich zwischen einem Ehemann, der seine Frau zwangseinweisen läßt, und dem Psychiater, der ihre »Behandlung« in die Hand nimmt, eine unangreifbare Arbeitsteilung.  Szasz gesteht zu, daß viele sogenannte Geisteskranke ihre Pflichten gegenüber den Angehörigen und dem Staat versäumt haben. 

Unrecht geschieht ihnen dennoch, wenn sie als Patienten eingestuft werden und dadurch jener Rechte verlustig gehen, die die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika dem Angeklagten in einem Strafverfahren vor Gericht garantiert.  Wie Sklaven oder Zwangsarbeiter müssen sie ohne Verurteilung in psychiatrischen Anstalten arbeiten, ohne eine Vergütung zu erhalten, obwohl man die psychiatrische Diagnose auf Schizophrenie oder Psychose mit Leichtigkeit für Millionen von Menschen stellen könnte, die nicht hospitalisiert sind.  So wie der Begriff »Geisteskrankheit« die zugrunde liegenden Konflikte zwischen Menschen zudeckt, kaschiert die Psychiatrie als medizinische »Behandlung«, was in Wahrheit ein pädagogisches, ökonomisches, religiöses und soziales Problem ist.  Wo aber derartige Konflikte im Rahmen einer paternalistischen (bevormundenden) Staatsauffassung, im Rahmen eines kollektivistisch orientierten Wohlfahrtsstaates erst einmal psychiatrisch bearbeitet werden, da ist es nicht mehr weit bis zu einer Erziehungsdiktatur, wie Szasz sie im Sowjetstaat verwirklicht sieht, der ausdrücklich ein therapeutisches Programm vertritt.

Aus meiner Sicht liegt der springende Punkt unseres Problems in folgendem: wenn wir den Staat als den Vater und die Staatsbürger als die Kinder ansehen, gibt es drei Möglichkeiten.  Erstens kann der Vater böse und despotisch sein: diese Situation bestand, wie die meisten zugeben werden, im zaristischen Ruß-land.  Zweitens kann der Vater gut, aber etwas tyrannisch sein: in diesem Licht sehen sich die kommunistischen Regierungen in Rußland und China.  Drittens kann der Vater auf seine Vaterrolle gänzlich verzichten, weil die Kinder erwachsen sind; man zeigt Respekt füreinander und unterwirft sich denselben Verhaltensregeln (Gesetzen): das ist das angloamerikanische Konzept eines nichtpatemalistischen Humanismus und einer gesetzlich geregelten Freiheit. (Szasz 1963b, S. 289)

Szasz warnt seine Leser vor dem karitativen Geist, der die psychiatrischen Reformen beseelt.  Indem der gegen die Norm Handelnde als krank bezeichnet und ihm bescheinigt wird, daß er für sein Verhalten nichts kann, wird er tatsächlich entmündigt, infantilisiert.  Dies ähnelt der Infantilisierung des Kindes, wie sie die historische Familienforschung neuerdings zur Sprache gebracht hat.  Wir sollten aber den Menschen nicht vorschreiben wollen, wie sie zu leben haben oder was gut für sie sei.  Jeder strebt nach irgendwelchen Werten im Leben, die aus der Perspektive anderer Wertordnungen nicht gut für ihn sein mögen.  Wenn der Fortschritt den Menschen aufgezwungen werden soll, dann hält Szasz es mit John Stuart Mill, der 1859 meinte, man müsse sich gelegentlich auch mit den Gegnern des Fortschritts verbunden, wenn die Fortschrittspartei gegen den Geist der Freiheit verstoße:

Die Persönlichkeit eines Menschen sollte ebenso wie sein Körper ihm gehören, nicht seinen selbstenannten psychiatrischen Vorrnündem. (L. c., S. 313)

Das gilt besonders auch für den Fall, daß jemand sich selbst umbringen will oder seinen Körper durch Drogen ruiniert (Szasz 1974).  Wo die Gesellschaft derartige selbstzerstörerische Handlungen als Rechtfertigung nimmt, um in das Leben der Betreffenden zwangsweise einzugreifen, da zeichnet sich am Horizont eine Gemeinde-Psychiatrie ab, die schließlich im Staat als einer großen therapeutischen Gemeinschaft zusammenfließt.  Szasz nennt dies eine Tendenz zum »moralischen Faschismus«, bei dem nicht mehr - wie im politischen Faschismus - die Rechte des einzelnen zugunsten des »Staatswohls« veneint werden (»Gemeinnutz geht vor Eigennutz«), sondern in dem diese zugunsten der »psychischen Gesundheit« suspendiert sind.  In einer solchen »therapeutischen« Gesellschaft werden gewisse Verhaltensweisen untersagt sein, Verstöße dagegen aber nicht mehr strafrechtlich, sondern mit therapeutischen Sanktionen geahndet werden.  Wie dies funktioniert, will Szasz bereits heute am Vorgehen gegen die Homosexualität zwischen einverständlich handelnden Erwachsenen ablesen.

Der Wunsch nach geistiger Gesundheit rechtfertigt heute fast jede Maßnahme, geradeso wie im Mittelalter der wahre Glaube die Inquisition rechtfertigte. (Szasz 1963b, S. 331) 

Psychiatrische Theologie

Seine herbe Kritik am Geist der Anstaltspsychiatrie hat Szasz seit 1963 in Artikeln und Büchem unermüdlich fortgesetzt und historisch vertieft. 1970 spricht er in bezug auf die Psychohygiene-Bewegung die Befürchtung aus, diese werde die amerikanische Gesellschaft möglicherweise dort kollektivieren, wo es Faschismus und Kommunismus bislang nicht geschafft haben (Szasz 1970a, S. 65).  Im gleichen Jahr er-schien eine breitangelegte Studie über Die Fabrikation des Wahnsinns, in der er auf fast 500 Seiten die Praktiken der Anstaltspsychiatrie und der Psychohygiene-Bewegung mit der mittelalterlichen Inquisition und besonders mit den Hexenverfolgungen in Parallele setzt. 

Im Mittelalter war die Inquisition eine Einrichtung, deren Funktion im Schutz der Gesellschaft gegen innere Feinde, gegen Abweichler, Neuerer und Unruhestifter lag.  Zu ihren Aufgaben gehörte es, Missetäter zu identifizieren und zu brandmarken, d. h. sie für andere erkennbar zu machen.  Durch die anschließende »Behandlung« wurde die herrschende Moral der Gesellschaft bekräftigt und zementiert. - Die seit dem 17.  Jahrhundert sich entwickelnde Psychiatrie, besonders aber die zu Beginn unseres Jahrhunderts von Freud inaugurierte Psychoanalyse hat es sich als Verdienst angerechnet, den auf Hexen und andere Abweichler angewandten Begriff der Sündhaftigkeit durch den der geistigen Erkrankung (Neurose, Psychose) ersetzt zu haben.  Szasz sieht darin vorwiegend einen Etikettenwechsel.  Die »peinliche Befragung«, wie die Inquisition ihre Foltermethoden nannte, d. h. Verstümmelungen und anschließende Verbrennung, existiert für ihn in Gestalt medizinischer »Therapien« fort, durch die der betroffene Personenkreis seelisch verkrüppelt wird (Anstalts-Hospitalismus) und körperlich Schaden nimmt (Elektroschock, Lobotomie, chemische Zwangsjacken mit Nebenwirkungen, die zu Dauerschäden fuhren).
 

Die Gefahr des Begriffs der »psychischen Gesundheit« (im Mittelalter: des »wahren Glaubens«) liegt darin, denen, die sich darauf berufen, das gute Gewissen zu verschaffen, wenn sie in die Privatsphäre ihrer Mitbürger eindringen und ihnen Verbaltensvorschriften machen.  So vertrat der britische Journalist Donald Gould 1967 in bezug auf die ärztliche Schweigepflicht die Ansicht, daß es in einer aus »rundum gut angepaßten Menschen bestehenden Idealgesellschaft« keine geschützte Persönlichkeitssphäre zu geben brauche.  Persönliche Geheimnisse seien stets schlechte Geheimnisse, und deshalb gelte für die ärztliche Schweigepflicht das gleiche wie für die katholische Beichtpraxis:

Das Beichtgeheimnis macht die Priester zu Mitverschwörem beim Vertuschen zahlloser Verbrechen. (Gould, zit. n. Szasz 1970b, S. 295)

Liegt das erste Kriterium für einen Missetäter also darin, daß er ein Wissen um irgend etwas für sich behält, so besteht das zweite in seiner Ansicht, der Mensch solle ein Recht auf den eigenen Körper haben.  Für Gould sind Menschen dagegen ein Teil des gesellschaftlichen Reichtums:

Die Gemeinschaft investiert in sie viel Geld in Form von Erziehung, Mietbeihilfen, subventionierten Agrarprodukten für ihre Bäuche und auf zahllosen anderen Gebieten.  Diese Investitionen zahlen sich nur aus, wenn die Männer und Frauen ... ein aktives, produktives Leben von angemessener Dauer führen. (Ebd.)

Das zweite Merkmal des Missetäters lautet demnach: Er treibt Schindluder mit seiner Gesundheit.  So weit wie Gould sind nach Szasz' Eingeständnis nicht einmal Marx und Lenin gegangen.  Aber Gould bewegt sich seines Erachtens durchaus in der Logik des marxistischen Staatsdenkens.  Dieses ist freilich eingebettet in eine viel breitere historische Tradition, die im Denken der Jakobiner ebenso zu finden ist wie bei Auguste Comte, dem Schöpfer des Wortes »Soziologie«, und neuerdings bei vielen (USA-)Liberalen sowie bei den Verhaltenswissenschaftlern. 
Der Begriff der »geistigen Gesundheit« dient regelmäßig dem Zweck, den Staat, die Gesellschaft vor dem schwierigen Mitbürger zu schützen.

Vergessen wir nicht, daß Psychiater in Nazideutschland maßgeblich an der Entwicklung jener Gaskammern beteiligt waren, zu deren ersten Opfern Geisteskranke gehörten. (Ebd.)

Zigeuner und dann Juden waren die nächsten, die als »Volksschädlinge« ausgerottet wurden.  Als Zeichen ihrer geistigen Entartung galt dabei, daß Juden für den Kapitalismus oder auch für den Kommunismus eingetreten waren.  Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in Westdeutschland dafür pro-nazistische und anti-semitische Äußerungen Rechtsradikaler als Zeichen von »Geisteskrankheit« oder psychischer Deformation gewertet.  - Szasz gesteht den kommunistischen Ländern zu, daß sie ihre »Geistesgestörten« nicht umbringen, sondern nur »zur Raison«. 

Psychiater und Nervenheilanstalten dienen dort häufig dazu, politisch mißliebige Personen unglaubwürdig zu machen und unter Verschluß zu nehmen.  Die Gefahr für die USA und andere westliche Länder sieht er in der Bewunderung, die die westliche institutionale Psychiatrie den sowjetischen Einrichtungen heimlich oder offen zollt.  Die dort geübte bürokratische Erfassung und Wiedereingliederung von Psychiatrie-Patienten ist jedoch unverträglich mit einer unternehmerischen Praxisform, die dem Patienten wie dem Arzt gegenseitige Wahlfreiheit läßt.  In den USA wird die Selbstbestimmung des Individuums mehr und mehr durch eine vergeblich wertfreie Psychohygiene-Technologie verdrängt, die - wie schon Auguste Comte - den Individualismus als die eigentliche Krankheit der westlichen Welt behandelt. Der holländische Psychiatrie-Kritiker Jan Foudraine hat dies 1979 in den Satz gefaßt, das Ich sei die Krankheit - allerdings nachdem er sich geistig in die Obhut eines indischen Gurus begeben hatte.
 

Auch als Gegner des russischen und chinesischen Kommunismus lehnt Szasz es ab, kommunistische Überzeugungen als Ausfluß von »Geisteskrankheit« zu interpretieren.  Er will der Ausbreitung dieser Lehren und Gesellschaftssysteme mit wirtschaftlichen, politischen »und wenn nötig militärischen« Sanktionen Widerstand leisten - unter Verzicht auf psychiatrische Rhetorik.  Den heimischen Propagandisten kommunaler Psychohygiene-Zentren bescheinigt er reformerischen Eifer und wohltätige Absichten.  Dennoch laufen ihre Programme in seinen Augen darauf hinaus, psychiatrische Patienten wie defekte Objekte zu behandeln, die von technokratischen Alles-Wissern und Alles-Könnem repariert werden müssen.  Eine solche verdinglichende Einstellung führt mit innerer Konsequenz dazu, Defekte nicht nur dort zu reparieren, wo dies nachgefragt wird, sondern potentielle Patienten aktiv zu ermitteln. 

In Analogie zur staatlichen Seuchengesetzgebung sprechen manche Psychohygieniker bereits von »emotioneller Verseuchung« und fordern entsprechende staatliche Maßnahmen.  Da sich »Geisteskrankheit« je nach Land und politischer Lage auch in Parteinahme für Kommunismus, Nazismus, Antisemitismus oder Negerfeindlichkeit äußern kann, sind für Szasz »die politischen Weiterungen einer so gearteten öffentlichen Psychohygienefürsorge mit qualvoller Deutlichkeit abzusehen« (1970b, S. 310).  Das Konzept »Geisteskrankheit« dient dabei der Stigmatisierung.  Unter einem Stigma versteht man seit Goffmans Untersuchungen über menschliche Interaktionsrituale eine zutiefst diskriminierende Eigenschaft.  Im Rahmen der institutionalen Psychiatrie nun enthält die allgemeine Stigmaklasse »Geisteskrankheit« die Unterklassen »Sucht«, »psychopathische Persönlichkeit« und »Schizophrenie«.  Als Institutionen der StigmaVerwaltung gleichen die Anstaltspsychiätrie und die staatlichen Einrichtungen der Psychohygiene der mittelalterlichen Inquisition. 
Genau wie der Durchschnittsmensch im Mittelalter unmöglich wissen konnte, wer eine Hexe war, und sie nur an der Identifizierung durch ihre Inquisitoren erkannte, so kann heutzutage der Normalbürger unmöglich wissen, wer ein Irrer ist, sondern ihn nur an seiner Identifizierung durch Psychohygiene-Arbeiter erkennen. (L. c., S. 323)
 

Der Unterschied psychiatrischer Behandlungsmethoden zur Praxis des Mittelalters im Umgang mit unbequemen Zeitgenossen liegt darin, daß der Inquisitor den Körper seiner Opfer verbrennen ließ, um deren Seele zu retten, wogegen der Psychiater den Körper seiner Opfer einsperren läßt, um ihren Geist zu retten.  Hexenriecher wie Psychodiagnostiker stehen im Dienste eines gesellschaftlichen Konformismus, der sich als psychische Gesundheit mißversteht.  Freiheit und Menschenwürde bleiben allemal auf der Strecke. - In einer Analyse des Schizophrenie-Begriffs, des »heiligen Symbols der Psychiatrie« (1976), vergleicht Szasz das Verhältnis zwischen Anstaltspsychiatem und unfreiwilligen Patienten mit der Sklaverei, die bis ins vorige Jahrhundert geherrscht hat und in manchen Winkeln der Erde noch immer existiert.  Die Existenz von Sklaven ist nicht durch irgendeine Eigenschaft derjenigen Menschen bedingt, die Sklaven sind, sondern durch die Existenz des gesellschaftlichen Systems der Sklaverei.  Wird dieses abgeschafft, so verschwinden auch die Sklaven. 

Das bedeutet nicht, daß bestimmte Personen, die vorher Sklaven gewesen sind oder die vielleicht gerne Sklaven sein möchten, ebenfalls verschwinden, zweifellos bleiben Personen zurück, die schwarz oder hilflos oder ungebildet oder dumm oder unterwürfig oder faul sind.  Aber wenn es keine Sklaverei gibt, kann keiner von ihnen ein Sklave sein.
Und wenn es keine Psychiatrie gibt, kann es auch keine Schizophrenen geben.  Mit anderen Worten, ob ein Mensch schizophren ist, hängt von der Existenz eines gesellschaftlichen Systems der (institutionalen) Psychiatrie ab.  Wird die Psychiatrie abgeschafft, verschwinden somit die Schizophrenen.  Das bedeutet nicht, daß bestimmte Personen, die vorher Schizophrene waren oder die gerne schizophren sein möchten, ebenfalls verschwinden; zweifellos bleiben Menschen zurück, die untauglich oder egozentrisch sind oder ihre »wirklichen« Rollen ablehnen oder ihre Mitmenschen auf andere Weise stören.  Aber wenn es keine Psychiatrie gibt, kann keiner von ihnen schizophren sein. (Szasz 1976b, S. 143 f) 

Psychoanalyse als sprachlicher Mummenschanz

 Die zeitgenössische Psychiatrie ist für Szasz vom Geist der Unfreiheit durchweht, weil sie mit Hilfe eines chimärischen Begriffs geistiger Gesundheit die Vergewaltigung des unbotmäßigen Individuums betreibt.  Angesichts dieser scharfen Verurteilung drängt sich die Frage oder sogar die Hoffnung auf, ob wohl die eher in Privatpraxen betriebene Psychoanalyse und ihre Abkömmlinge ein therapeutisches Verfahren darstellen, dem die Mängel der Anstaltspsychiatrie weniger anhaften.  Der Scharfsinn Thomas Szasz' zersetzt jedoch auch in dieser Hinsicht manche Illusion. 1963 gelangt er bei einer Analyse des Begriffs »Übertragung«, der für die psychoanalytische Deutungs- und Interventionstechnik von zentraler Bedeutung ist, zu der Feststellung, daß die hierbei verwendete Unterscheidung von Illusion und Wirklichkeit eine Grundfigur bildet, die dem Dualismus von körperlichem und »psychogenem« Schmerz gleicht. 

Hier wie dort geht es um das Problem, daß das autokratische Urteil des Arztes darüber entscheidet, wessen Sicht »realistisch« und wessen »illusionär« ist.  Diese Unterscheidung ist einfach zu treffen und zu prüfen, wenn ein Patient falsche Aussagen über äußere Objekte, z. B. über die Haarfarbe des Therapeuten macht.  Sie wird komplex, wenn er den Analytiker als arrogant und ich-bezogen darstellt, während dieser sich vielleicht für freundlich und liebenswert hält.  Solche Diskrepanzen treten natürlich auch außerhalb der analytischen Situation zwischen Menschen auf; innerhalb der Analyse hat jedoch der Therapeut den Vorteil, das Verhalten und die Äußerungen des Patienten als »Übertragung« klassifizieren zu können.
 

Das Konzept der »Übertragung« lebt - hegelisch gesprochen von der Differenz zwischen »an sich« und »für sich«: in der Selbstreflexion darauf, daß eine von mir als »real« empfundene Angst tatsächlich eines wirklichen äußeren Zusammenhangs entbehrt, leuchtet diese Unterscheidung von innerem Erleben und reflektierender Stellungnahme dazu auf. In der analytischen Situation, die im Grunde recht intimen Charakter besitzt, dient die »Übertragungs«-Diagnose dazu, die Handlungsaufforderungen zu neutralisieren, die in den Emotionen des Patienten für den Therapeuten liegen.  Angesichts starker Gefühlseindrücke nicht zu reagieren, stellt eine erhebliche seelische Leistung dar.  Deshalb, so vermutet Szasz einleuchtend, ziehen es wahrscheinlich viele Patienten (und auch nicht-analytische Therapeuten) vor, an sogenannten Encounter-Gruppen teilzunehmen, die mehr Gelegenheit bieten, affektive Spannungen unmittelbar auszuagieren.  Im Rahmen der Psychoanalyse gibt es drei Sicherungen für den Therapeuten gegen die Gefahr, seinerseits zu agieren. 

Die erste liegt in seiner Persönlichkeit selbst, die einen asketischen Zug haben muß; die zweite besteht in förmlichen Bedingungen wie z. B. der Regelmäßigkeit der Verabredungen, der Nüchternheit des Behandlungsraumes, der Tatsache der Bezahlung; und die dritte beruht auf dem Übertragungskonzept.  Hiermit vermag der Analytiker den Patienten jeweils auf Distanz zu halten, indem er nämlich über dessen Gefühle dekretiert, sie gälten in Wahrheit nicht dem Therapeuten, sondern jemand anderem.  Szasz hebt hervor, daß für die Abwehr unerwünschter Emotionen auch der entgegengesetzte Weg geeignet sein kann.  So war es dem Genie Harry Stack Sullivans im Umgang mit seinen schizophrenen Patienten gelungen, angesichts ihrer offensichtlich qualvollen Kindheitserinnerungen und der daraus fließenden angstvollen Erwartungen die Arzt-Patient-Beziehung ihres Als-ob-Charakters zu entkleiden und sie als eine wahrhaft gute menschliche Beziehung erfahrbar zu machen.
 

Im puritanischen Wien der Jahrhundertwende bot das Übertragungskonzept Sigmund Freud die Möglichkeit, unerlaubte Liebesgefühle, die eine weibliche Patientin ihm entgegenbrachte, für echt anzuerkennen und dennoch dem daraus komplerqentär entstehenden Reaktionsdruck nicht nachzugeben.  Er mußte die angebotene Liebe weder annehmen noch zurückweisen, wenn er die Beziehung mit Hilfe der »Übertragungs«-Diagnose auf eine Meta-Ebene anhob, auf der er mit der Patientin über die Beziehung auf der nächsttieferen Handlungsebene sprechen konnte.  Wenn es damals hieß, Psychoanalyse sei unanständig und eigentlich eine Angelegenheit für die Polizei, nicht aber für die Wissenschaft, so gestattete es dieses Konzept tatsächlich, eine »obszöne« Situation mit Anstand zu gestalten.  Indem der Arzt jedoch durch diesen Trick zu einem Nicht-Teilnehmer der urtümlichen Gefühle von Liebe (und Haß) wird, die in seinem Patienten wogen, ergibt sich für das ganze Verfahren eine Gefahr: der Therapeut fungiert nämlich als bloßes Symbol der Personen, auf die sich die Gefühle seiner Patient(inn)en angeblich richten, unabhängig davon, was er tut oder sagt oder läßt. 

Der Patient ist ungeschützt gegenüber der Möglichkeit, daß der Analytiker sich irrt oder ihm Unrecht tut.  Dagegen hilft auch nicht Freuds Empfehlung, alle Analytiker sollten im Rahmen ihrer Ausbildung eine eigene Charakteranalyse absolvieren müssen.  Ebensowenig wirken die heute üblichen Forderungen nach einem hohen Ausbildungsstandard der psychoanalytischen Institute in der behaupteten Richtung.  Denn bisher hat niemand eine Methode gefunden, so meint Szasz, die ein integres Verhalten von Menschen sichert, die sich unbeobachtet und unkontrolliert wissen.  Indem das Übertragungskonzept den Analytiker jenseits der Reichweite möglicher Kritik von Patienten, Kollegen oder sogar durch ihn selbst ansiedelt, kann es zum Keim des Untergangs für die Psychoanalyse werden.
 

In seiner jüngsten Studie über den Mythos der Psychotherapie (1978) gelangt Szasz zu noch kritischeren Urteilen über Freud, die Psychoanalyse und die psychoanalytische Bewegung.  Er unternimmt hier den großangelegten Versuch, aus den Zeit- und Lebensumständen heraus, unter denen Freud das neue Behandlungsinstrument entwickelte, dessen Charakter als pseudomedizinische, im Grunde uralte und religiös verankerte Redekunst aufzuzeigen, deren inhaltliche Impulse auf eine Herabwürdigung der außerjüdischen Kulturwelt gerichtet sind.  Freuds besonderes Talent zur Selbstverherrlichung sieht er in dessen Bestreben am Werk, alle altüberkommenen Begriffe menschlichen Selbsterkennens in neue, »wissenschaftliche« Tertnini umzuformen, um sie als eigene brandneue Entdeckung zu verkaufen.  So wird der Geist zum »psychischen Apparat«, werden die Leidenschaften des Menschen zum »Es« umgetauft; das Selbst wird zum »Ich« oder »Ego«, das Gewissen wird als »Überich« angeblich neu entdeckt.  In Freuds Neu-Sprache haben die Menschen nicht länger Konflikte miteinander und innere Widersprüche, sondern »Komplexe« und »Ambivalenzen«.  Sexuelles Verlangen und Interesse wird zu »Libido«, einer Art metaphysischer Wesenheit, die als Manifestation eines noch dahinter wirkenden »Lebenstriebes« hingestellt wird.

Miteinander sprechen - wenn Freud der Partner ist oder es nach seinen Regeln geschieht - ist »Psychoanalyse«; aber ähnliche Gespräche - wenn sie von Dissidenten oder nach Regeln geführt werden, die Freud mißbilligt - sind ein »Rückfall in Suggestionstherapie« oder noch Schlimmeres. (Szasz 1978, S. 135; Übers.  R. W.)

Freud war sich über die religiösen Ursprünge der Heilmetho-den im klaren, die Gespräch und Worte, Beschwörungen und Zauberformeln, Suggestion, moralische Ermahnungen und auch Lügen benutzen, um ihre Klientel in einer gewünschten Richtung zu beeinflussen.  Er sah aber ebenso klar, daß die neue Religion der Zeit den Namen »Wissenschaft« trägt, und war mit Entschlossenheit und Erfolg bemüht, die »Psychoanalyse« in diesem Zug mitfahren zu lassen.  C. G. Jung war in diesem Punkt ehrlicher, wenn er die Religionen als Vorläufer moderner Psychotherapien bezeichnete und die therapeutischen Systeme dementsprechend Ersatzreligionen nannte (Szasz 1978, S. 181). 

Für Szasz liegt die Analogie offen zutage: wenn der mittelalterliche katholische Priester behauptete, der Meßwein sei das Blut Christi, so insistiert der moderne Psychotherapeut, seine Bemühungen um das seelische Wohl des Patienten seien eine medizinische Behandlung.  Indes Aufklärung, Religionskritik und moderne Naturwissenschaften längst zwischen Astronomie und Astrologie, zwischen Chemie und Alchimie zu unterscheiden gelehrt haben, wird in der Medizin nach wie vor nicht zwischen objektivierbaren chemo-physikalischen Operationen am menschlichen Körper und geistig-seelischer Bezauberung unterschieden.  Der Begriff »Medizin« oder »medizinisch« suggeriert, daß alle Manipulationen, denen der Patient unter diesem Firmen-schild ausgesetzt wird, seinem Wohl dienen, auch wo der behandelnde Therapeut im Dienste des Staates oder anderer großer Institutionen steht.  Die Trennung von Kirche und Staat, Religion und Recht, wie sie im Zuge der Aufklärung die meisten westlichen Demokratien vollzogen haben, ist für die Medizin erst noch zu leisten.  Religion ist mehr und mehr zur Privatsache geworden, die Mitgliedschaft zu den religiösen Gemeinschaften ist freiwillig.  Für die modernen Ersatzreligionen aber, Psychiatrie und Psychotherapie, gilt diese Konsequenz, mindestens im Bereich der Anstaltspsychiatrie, bisher nicht. 

Autonomie und Verantwortung

 Szasz hat 1965 die Regeln formuliert, denen der psychothe-rapeutische Prozeß seines Erachtens unterliegen muß, soll er die Selbständigkeit und Selbstkontrolle des Patienten fördern, statt ihn zu (re)sozialisieren und zu bevormunden.  Er war sich dabei im klaren, mit diesem Unternehmen neben der Front gegen die Anstaltspsychiatrie zwei weitere Fronten zu eröffnen: gegen die Kirchen, weil die von ihm entworfene therapeutische Praxis zur Institution der Beichte und deshalb auch zum Kirchenpersonal in Konkurrenz steht - denn auch die therapeutische Tätigkeit besteht wesentlich im Zuhören und Deuten, durch die dem leidenden oder zweifelnden Klienten Erleichterung verschaft werden soll; und die andere Front gegen die Zunft der etablierten Psychoanalytiker, deren Theorien über das Wesen des psychoanalytischen Arrangements Szasz verwirft und deren Ausbildungspraktiken er als doktrinär und autoritär anprangert. 

Für ihn stellt die psychoanalytische oder psychotherapeutische Beziehung eine menschliche Begegnung dar, die ausnahmslos und entschieden durch die ethischen Prinzipien des Individualismus und der persönlichen Autonomie geregelt sein muß.  Er hat dabei im Sinn, daß der Freiheitsbegriff durchaus aus zwei verschiedenen historischen Quellen gespeist wird: Männer wie Jefferson oder Voltaire vertraten Freiheit in einem individualistischen und positiven Sinn (als Freiheit zu, d. h. Freiheit, dies oder das zu tun); Rousseau, Saint-Simon, Marx, Lincoln und andere faßten Freiheit dagegen eher kollektivistisch und negativ auf (als Freiheit der Bürger von bestimmten Pflichten und Einschränkungen).  Er will hier jedoch keinen unversöhnlichen Gegensatz gelten lassen, sondern sieht die kollektivistisch-negativ verstandene Freiheit als Voraussetzung an, auf der die individualistisch-positive Freiheit des einzelnen aufbauen kann. 
Im Rahmen einer Psychotherapie, wie Szasz sie versteht und zu praktizieren sucht, bildet die individuelle Freiheit ein so hohes Ziel, weil die Verfolgung individueller Lebensrechte die Freiheit anderer weniger beeinträchtigt, als es bei der Verfolgung nationaler oder religiöser Ziele der Fall ist, bei denen das Kollektiv für gewöhnlich höher bewertet wird als der einzelne Mensch. 

Offenbar im Sinne der Philosophie Milton Friedmans (Capitalism and Freedom 1962), die eine extrem liberalistische Wirtschaftspolitik bei weitgehender staatlicher Zurückhaltung und minimalen Sozialleistungen für die schlecht weggekommenen Bevölkerungsteile propagiert, will Szasz auch die psychotherapeutische Beziehung organisieren, indem er jedes aktive Verhalten des Patienten in Richtung Selbständigkeit ermutigt, dessen Anlehnungstendenzen aber als kindliches Überbleibsel interpretiert und wertet. »Autonome Psychotherapie«, wie er die von ihm angestrebte Praxisform nennt, bevorzugt in der Behandlung den Typus des »Suchers«.  Darunter versteht Szasz einen Charakter, der wie ein Geschäftsmann oder Unternehmer bestrebt ist, seinen Gewinn zu maximieren, und der auftauchende Hindernisse listig zu umgehen oder in mehrfachen Anläufen zu überwinden sucht.  Die Nachfrage nach psychotherapeutischer Behandlung bildet im Leben dieses Persönlichkeitstyps einen solchen listigen Umweg, durch den er die Überwindung anstehender Lebensprobleme erwartet.  Den Gegentyp zu dem skizzierten Homo-oeconomicus-Typ bildet der »Vermeider«.  Er gleicht dem Angestellten oder Arbeiter, der seine Anstrengungen oder sein Arbeitsleid minimieren möchte.  Der Vermeider trachtet danach, für nichts etwas zu bekommen; er zieht es vor, fremdbestimmt zu leben und die Last der Verantwortung für sein Leben andere tragen zu lassen.  In Hinsicht auf therapeutische Erfolge ist der Typus des »Suchers« sehr zu empfehlen, dagegen eignet sich der »Vermeider« besser für zeitlich lang hingestreckte, finanziell ergiebige Analysen.
 

Da das Ziel der »autonomen Psychotherapie« in der individuellen Befreiung des Patienten aus wirklicher oder vermeintlicher Fremdbestimmung liegt, muß bereits das therapeutische Arrangement dementsprechend gestaltet sein.  An der Beziehung dürfen nur der Arzt und der Patient als Parteien beteiligt und sie muß vertraglich geregelt sein oder wenigstens vertragsmäßigen Charakter besitzen, d. h. sie muß symmetrisch gestaltet werden in Hinsicht auf Kündigungsmöglichkeit und gegenseitige Verpflichtungen.  Das schließt für den Therapeuten zum Beispiel die Verpflichtung ein, während der vereinbarten Sitzungen in der Praxis anwesend zu sein; für den Patienten die Verpflichtung, die vereinbarten Sitzungen zu bezahlen, auch wenn er sie nicht wahrnimmt.  Der Therapeut muß sich verpflichten, den Patienten auch bei Selbstmorddrohungen oder anderen gefährlichen Manövern nicht zu überwältigen, indem er ihn psychiatrisch zwangseinweisen läßt. 

Die Symmetrie der Beziehungen, das relative Machtgleichgewicht also, darf auch nicht durch außeranalytische Abhängigkeiten zwischen den Parteien beeinflußt werden, wie dies etwa der Fall wäre, wenn der Patient zwangseingewiesener Klinikinsasse ist oder wenn der Analytiker gleichzeitig Angestellter des Analysanden ist oder dessen Arbeitgeber.  Ein Verhältnis von Chefarzt zu Assistenzarzt innerhalb der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses gefährdet die psychoanalytische Beziehung ebenso wie der Fall, in dem der Patient Universitätsprofessor ist und der Analytiker gleichzeitig wissenschaftliche Hilfskraft.  Ferner soll der Patient nicht politisch oder beruflich besonders einflußreich sein oder sehr reich, so daß er dem Analytiker über das Honorar hinausgehende Gratifikationen zukommen lassen kann.  All dies sind Umstände, die nach Meinung von Szasz die erforderliche Gleichberechtigung von Therapeut und Patient heikel sein lassen und eine erfolgreiche therapeutische Arbeit nur bei hoher Bewußtheit beider Seiten denkbar machen.
 

Im psychoanalytischen Ausbildungswesen liegen für Szasz besonders gravierende Mängel in bezug auf die zu fordernde relative Machtgleichheit in der psychotherapeutischen Beziehung vor.  Ausbilder und Kandidat sind in ihrem Verhältnis zueinander gebunden: bei konfligierenden Interessen gehen die Gesichtspunkte des Instituts stets voran; es werden die Häufigkeit der Sitzungen, die Dauer der Ausbildung, die Couch als Platz des Kandidaten von außen vorgeschrieben; oft werden sogar Ausbilder und Kandidat einander zugewiesen.  Die Beziehung gleicht so der zwischen dem Anstaltspsychiater und dem zwangseingewiesenen Patienten.  Daß die Lehranalytiker nicht Beauftragte des Kandidaten, sondern des jeweiligen Instituts sind, macht sie - nach dem Ausspruch des amerikanischen Soziologen C. Wright Mills - zu fröhlichen Robotern im Dienste der psychoanalytischen Machtelite. - Freud hatte wohlweislich die Interessen des einzelnen Patienten zum ausschließlichen Bezugspunkt des therapeutischen Handelns gemacht, vermutlich aus der von Szasz unterstrichenen Erfahrung heraus, daß die Familie oder andere Institutionen der Gesellschaft in der Regel stärker sind als der einzelne und sich auch ohne therapeutische Unterstützung zu helfen und zu wehren wissen. 

Die also gerechtfertigte Parteinahme für den Patienten wird aber leider in praktisch allen modernen psychotherapeutischen und psychiatrischen Schulen vollständig vernachlässigt, wobei Szasz mit besonderem Ingrimm Richtungen wie Milieutherapie, Familien und Gruppentherapie nennt.  Alle Formen der Kollektivtherapie versuchen seines Emchtens etwas Unmögliches, nämlich dem Patienten zu helfen und gleichzeitig der Familie, den Freunden, dem Arbeitgeber, der Krankenversiche-rung oder der staatlichen Verwaltung gerecht zu werden. 
Das Überschreiten der therapeutischen Zweierbeziehung wurde allerdings von Freud selbst bereits ins Auge gefaßt, als er für die Zukunft die Hoffnung aussprach, es würde zur Anwendung der Psychoanalyse auf großer Stufenleiter, zur Therapie für große Bevölkerungsmassen kommen.  Er räumte allerdings ein, daß bei solcher Ausweitung des Anwendungsbereichs »das reine Gold der Analyse« vermischt werden müßte mit dem »Kupfer der direkten Suggestion« (Wege der psychoanalytischen Therapie, 1918).  Szasz sieht hierin einen Irrweg.

Aber welche Art von Hilfe benötigt »eine beträchtliche Masse der Bevölkerung« tatsächlich? - Die Armen benötigen Arbeit und Lohn, nicht Psychoanalyse.  Die Ungebildeten benötigen Wissen und Können, nicht Psychoanalyse.  Darüber hinaus sind die Armen und Ungebildeten auch oft politischer Rechte beraubt und sozial benachteiligt; wo dies der Fall ist, benötigen sie Befreiung von solcher Bedrängnis.  Die Art von persönlicher Freiheit, die die Psychoanalyse verspricht, kann nur für Personen Bedeutung haben, die ein beträchtliches Maß an ökonomischer, politischer und sozialer Freiheit genießen. (Szasz 1965a., S. 28; Übers.  R. W.)

Psychoanalyse ist nicht der einzige, ist nicht der Königsweg, um mit Lebensproblemen fertig zu werden.  Am Beispiel einer jungen gebildeten Ehefrau, die mit ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter unzufrieden ist, zeigt Szasz die möglichen Alternativen auf.  Die junge Frau kann einen organmedizinisch orientierten Psychiater aufsuchen, der sie mit einer Serie von Elektroschocks behandelt; sie kann einen Allgemeinarzt konsultieren, der ihr vielleicht Beruhigungstabletten verschreibt; sie kann sich an einen Seelsorger wenden und dessen geistlichen Rat erbitten; sie kann bei einem Analytiker um Therapie nachsuchen; kann sich mit einem befreundeten Mann auf eine Liebesaffäre einlassen; oder sie kann schließlich einen Rechtsanwalt engagieren und die Scheidung einreichen.  Wählt sie den Weg der Psychoanalyse und findet einen »autonomen Psychotherapeuten«, der bereit ist, mit ihr zu arbeiten, so muß dessen Arbeitsziel darin bestehen, die Entscheidungsfähigkeit der Patientin zu fördern und ihre Bereitschaft zu stärken, volle Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übemehmen.
 

Der therapeutische Prozeß wird von Szasz im Licht dieser Zielsetzung als ein Ringen zwischen den Beteiligten um die Zuschreibung von Verantwortlichkeiten dargestellt, besonders wenn der Patient zum Typ des »Vermeiders« gehört.  Während dieser vom Therapeuten magische Entlastung von drückenden Lebensproblemen erhofft und Geborgenheit sucht, ist der Therapeut bestrebt, dem Patienten dieses Ab-hängigkeitsstreben bewußtzumachen und zu verleiden.  Wachsamkeit ist vor allem gegenüber den vielfältigen Versuchen des Patienten angezeigt, den Therapeuten in eine Helferrolle zu manövrieren, womöglich auf dramatisch-handfeste Weise (Suizidversuche, ruinöse Finanzprojekte u.a.m.). Der Patient wird am Ende nur zu autonomer und verantwortlicher Lebensführung gebracht, wenn der Therapeut seinerseits allen Versuchungen widersteht, die ihm durch finanzielle Bestechungen, Drohungen oder Schmeicheleien angetragene Rolle der schätzenden - und bevormundenden - Autorität zu übemehmen.  Alle entsprechenden Manöver des Patienten, zu denen Szasz auch die »sogenannten« psychosomatischen Krankheiten zählt, muß der Therapeut aus der Sprache des »Ich kann nicht« in die Sprache des »Ich will nicht« dolmetschen und dem Gegenüber die Verantwortlichkeit für das eigene Tun und Lassen bewußtmachen. 

Die Analyse ist darin keineswegs moralisch neutral, sondern zwingt den Patienten zur Wahl: entweder die Bedingungen des therapeutischen Vertrages zu erfüllen oder auf die vertraglichen Leistungen des Analytikers zu verzichten.  Für Szasz gilt dies als der einzige Zwang, den der Analytiker ausüben darf und soll.  Psychoanalytische Arbeit beschränkt sich demnach nicht auf die Analyse der Spielstrategien, die der Analysand im Lebensspiel anwendet, sondern sie ist auch Erziehung zur Mündigkeit, indem sie das Spielrepertoire des »Zöglings« soweit anreichert, daß er sich aus eigener Kraft und Geschicklichkeit im zwischenmenschlichen Verkehr behaupten kann.  Sie ist so ein Stück angewandte Ethik, die sich zu den von ihr vertretenen und angestrebten moralischen Werten auch bekennen und der Konkurrenz mit anderen ethischen Wertsystemen - als da sind: Religionen, Nationalismus, Kommunismus usw. - nicht unter dem Deckmantel »medizinischer Behandlung« ausweichen soll.
 

Die ärztliche Helferrolle ist eine Machtrolle.  Wenn der Psychotherapeut sich in diese Rolle schieben läßt, indem er die vorgezeigte Schwäche seines Gegenübers als Entschuldigung für dessen unerwachsenes Verhalten akzeptiert, verhält er sich, als sei mit dem Vertragspartner nicht zu verhandeln, weil dieser zu schwach, mithin nicht vertragsfähig sei.  Der Masochist hat gesiegt, die Abhängigkeit ist beiderseits, die Regel des Zwangsspiels lautet: Der eine muß Manöver produzieren, der andere muß Rücksicht nehmen. 

Kritische Würdigung

 Die Beschäftigung mit der Szaszschen Gedankenwelt ist ein faszinierendes Erlebnis. Im Rahmen der hier unternommenen Darstellung konnten nur die großen Linien des inzwischen vorliegenden Werkes nachgezogen werden.  Zwei Aphorismensammlungen (1973, 1976) allein mit beißend-kritischen Gedankensplittern bereiten großes Lesevergnügen und konnten hier nicht einmal gestreift werden.  Es ist sozusagen unmöglich, von Thomas Szasz nicht gefesselt zu werden. - Dennoch muß der Redlichkeit halber gesagt werden, daß der Reiz dieses detektivischen Denkers zum großen Teil in seiner Einseitigkeit, in der Verteidigung der Rechte des Individuums gegen die Rechte des Kollektivs, liegt.  Man kann darüber spekulieren, ob die Gewalttätigkeit des Nationalsozialismus den jungen Szasz tiefgreifend geprägt hat, der deswegen sein Geburtsland Ungarn verlassen mußte; ob die heute über Ungarn verhängte kollektivistische Zwangsherrschaft ein übriges dazu getan hat.  Man kann sich fragen, ob die glänzende berufliche Karriere in den USA, die ihm Heimat anboten, seine Parteinahme für einen kapitalistisch gefärbten Individualismus emotional gefördert hat.  Es wäre möglich, in der individualpsychologischen Tradition Alfred Adlers zu prüfen, ob die Position als jüngerer Bruder ihn besonders allergisch werden ließ gegen Bevormundung durch ältere und vielleicht selbstenannte Autoritäten.
 

Der Einwand, welcher trotz der persönlichen Berechtigung der Szaszschen Sicht des Problems Gewicht haben wird, ist der der Vernachlässigung der Rechte des Kollektivs gegenüber dem einzelnen.  Wenn Georg Simmel um die Jahrhundertwende es das zentrale Problem der Soziologie nannte, zu befinden, inwieweit, die Gesellschaft für die Zwecke des Individuums dazusein habe und inwieweit umgekehrt das Individuum für die Zwecke der Gesellschaft in Anspruch genommen werden dürfe, so ist bei Szasz dieses Gleichgewichtsproblem einseitig zugunsten des Individuums entschieden.  Hierin liegt seine pauschale und zum Teil polemische Ablehnung aller nicht-individuellen Therapieformen (Familien-, Gruppentherapie, Psychohygiene-Bewegung) begründet. Der Familientherapeut Helm Stierlin (1977, S. 196) hat ihm deshalb mit Recht vorgeworfen, Szasz' Konzept des psychoanalytischen Vertrages begünstige das Auseinandertherapieren von Familien und lasse einen Mangel an All-Parteilichkeit erkennen.  Szasz nimmt dies in Kauf, indem er sich auf das Argument eines englischen Juristen beruft, er sei für Ehescheidung, weil er gegen Mord sei.  Zu dieser Einseitigkeit im Szaszschen Denken gehört auch, daß das relative Recht der Familien, Betriebe oder Gemeinden, sich gegen ärgerliche Verhaltensweisen einzelner mit entsprechenden Mitteln zu wehren, im grellen Licht seiner Kritik an den Zwangspraktiken der Anstaltspsychiatrie verschwindet.
 

Szasz hat gegen manche Richtungen und Vertreter der modischen Anti-Psychiatrie den Vorwurf erhoben, hier würden die sogenannten Geisteskranken zu den besseren, nämlich einzig »authentischen« Menschen verklärt (Szasz 1976b, S. 57 ff.). Wenn er sich dagegen wehrt, diese Personen lediglich als »Opfer« der Gesellschaft zu betrachten, die deshalb ein Anrecht auf Wiedergutmachung hätten, so wird sichtbar, daß er der Philosophie Herbert Spencers nahesteht.  Spencer hat zu Beginn unseres Jahrhunderts die Maxime vertreten, der Mensch solle nur Anspruch auf die Fürsorge der Gemeinschaft haben, solange er Kind ist und nicht für sich selbst sorgen kann.  Im Erwachsenenalter aber sei eine Versorgung, die der Mensch nicht selbst erarbeitet, schädlich, weil sie dem wohltätigen Zwang zur individuellen Ertüchtigung entgegenwirke.  Indem Szasz sich dieser Philosophie - wenn auch eher implizit, wenn auch mit Einschränkungen (Szasz 1961, S. 189) - anschließt, steht er konträr zu dem breiten Strom sozialstaatlichen Versorgungsdenkens, der in den westlichen Massendemokratien ständig anschwillt. - Blickt man noch weiter in die Vergangenheit zurück, so ähnelt die Szaszsche Position der Lehre des britischen Mönchs Pelagius (um 400 n. Chr.): dessen Erlösungslehre verzichtete auf den Begriff der Erbsünde und verkündete, jeder könne aus eigener Kraft selig werden.  Der Pelagianismus wurde von Augustinus, später von den Reformatoren bekämpft und im Jahre 431 vom Konzil von Ephesus verdammt. 


  LITERATURHINWEISE

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