Thesen der Verteidigung zum Foucault-Tribunal
Vorwort
Aufgabe der Psychiatrie ist nicht, aus sogenannten „unnormalen" sogenannte „normale" Menschen zu machen, sondern seelisch beeinträchtigten Menschen zu helfen, ihre Möglichkeiten des Erlebens und der individuellen Lebensgestaltung zu erweitern.
Die Verteidigung will die Notwendigkeit „guter Psychiatrie" verteidigen, keinesfalls „schlimme Psychiatrie" schön reden. Real existierende Psychiatrie ist manchmal ziemlich schlimm, nicht selten aber auch ziemlich oder wenigstens ein bißchen gut. Das Foucault Tribunal sollte Schlimmes und Gutes prägnant werden lassen und Wege zur Weiterführung der Psychiatriereform aufzeigen.
1. Das psychiatrische Hilfesystem jeder Gesellschaft ist wesentlich geprägt von den jeweils bestimmenden kulturellen Strömungen und den politischen Machtverhältnissen, im Positiven wie im Negativen. Die Psychiatrie ist in Theorie und Praxis so verschiedenartig und bunt, wie andere gesellschaftliche Bereiche auch, etwa die Schule, das Theater, die Justiz, die Kirchen. Wie dort auch, beobachtet man integrative und desintegrative Prozesse, progressive und traditionelle Denkmodelle, mischen sich dilettantisches und kompetentes, kreatives und routinebestimmtes Denken und Handeln.
Dennoch ist es wichtig Grundstörungen herauszuarbeiten und zu benennen, immer unter dem Vorbehalt, daß an vielen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten eine gegenteilige Tendenz vorherrscht. Einzelne Beispiele für „gute" oder „schlechte" Psychiatrie können deshalb exemplarisch verdeutlichen, aber nichts beweisen.
2. Radikale Kritik an der historischen und zugleich der aktuellen Psychiatrie ist nicht nur berechtigt, sondern ständig notwendig, weil im System psychiatrischer Hilfen immer die Gefahr und damit auch mehr oder weniger die Praxis des Machtmißbrauchs besteht. Denn die Stellung des psychisch kranken Menschen als Verhandlungspartner ist gegenüber Personen und Institutionen in der Psychiatrie geschwächt dadurch, daß
- psychisches Kranksein in der Bevölkerung immer noch als Zeichen sozialer
Minderwertigkeit angesehen wird,
- psychisches Kranksein häufig zur psychischen und sozialen Abhängigkeit vom
psychiatrischen Hilfesystem führt,
- Psychiatrie mit dem Doppelauftrag zu heilen und die Gesellschaft wie die Patienten
zu schützen über reale Definitionsmacht und über materielle Zwangsinstrumente
verfügt,
- Vorgehensweisen innerhalb der Psychiatrie aus guten und fragwürdigen Gründen
wenig transparent sind.
Eine Psychiatrie, die Machtmißbrauch betreibt, wird zur zweiten möglicherweise sogar schlimmeren Krankheit ihrer Patienten.
3. Die Ankläger haben der Psychiatrie, wie sie sich in Theorie und Praxis darstellt, berechtigte Vorhaltungen gemacht:
Krankheitsverständnis und therapeutische Zielsetzungen und Arbeitsweisen sind nicht seiten in beträchtlichem Umfang von nicht hinterfragten Vorurteilen und Gewohnheitsbildungen bestimmt.
Die Beziehung zwischen Patienten und therapeutischen Mitarbeitern ist oft weniger durch respektvolle Partnerschaft und Dienstleistungsorientierung als durch Dominanz und subtile Entwertung gekennzeichnet (behandeln statt verhandeln).
Unmittelbare und strukturelle Gewalt sind im psychiatrischen Alltag oft nicht auf das unvermeidliche Maß begrenzt.
4. Die Ankläger hätten mit ebenso großer Berechtigung weitere Vorwürfe erheben können, z.B. das psychiatrische Hilfesystem falle weit hinter die von ihm selbst bearbeiteten Reformkonzepte (vgl. Psychiatrieenquete, Expertenkommission) zurück:
- Das Hilfesystem ist immer noch institutionszentriert statt personenzentriert.
- Die Hilfen für schwer und psychisch kranke Menschen sind am wenigsten
entwickelt. Diese Menschen müssen häufig zu Sozialhilfeempfänger werden, wenn
sie überhaupt Hilfe erhalten wollen.
- In berufsgruppenübergreifender Abstimmung erbrachte
Behandlungsprogramme sind, vor allem im ambulanten Bereich, ebenso selten wie
die Kontinuität der Hilfen.
- Die Schwerpunktverlagerung aus dem stationären in den ambulanten Bereich ist
nicht umgesetzt.
- Kooperation, Koordination und bedarfsorientierte Steuerung scheitern häufig an
individuellen Interessen von Leistungsträgern und Leistungserbringern.
Es scheint, daß die Ankläger das psychiatrische Hilfesystem für nicht reformfähig halten.
5. Das Krankheitsverständnis einer humanen und sozialen Psychiatrie fokussiert nicht auf die Feststellung von sogenannt abnormen Erlebnisweisen und abweichendem Verhalten. Beides kann auch Zeichen seelischer Gesundheit in ungewöhnlicher Situationen sein.
Als seelisch krank ist vielmehr derjenige anzusehen, der aufgrund von Beeinträchtigungen im Erleben und Handeln von bestimmten gesellschaftlichen Anforderungen (z.B. Arbeit, soziale Anpassung) zu entlasten ist und/oder professioneller Hilfe bedarf, weil die eigenen Selbsthilfekräfte und die Unterstützung des sozialen Umfeldes nicht ausreichen.
Seelisches Kranksein ist letztlich nur auf der Grundlage einer persönlichen Beziehung zu dem kranken Menschen unter Berücksichtigung seiner Lebensgeschichte und seiner aktuellen Lebenssituation zu verstehen und zu beurteilen. Die persönliche Beziehung gründet sich ebenso auf Einfühlen und Eindenken wie auf Auseinandersetzung in der konkreten Behandlungs- oder Beurteilungssituation. Fachliche Kompetenz und berufliche Erfahrung sind in der Einordnung von Krisensituationen und Krankheitsentwicklungen bedeutsam und oft unverzichtbar, sind aber nur in Verbindung mit persönlicher Kompetenz wirklich hilfreich.
Es ist verständlich, daß Patienten, Angehörige und die Gesellschaft nicht selten ihre ungelösten Probleme in der Psychiatrie abladen, bzw. möglichst schmerzlos gelöst haben wollen. Der therepeutische Auftrag erfordert von den Psychiatriemitarbeitern die Fähigkeit und die Bereitschaft zum Mit-erleben und Mit-denken, zum Mit-Aushalten und zu freundlicher Zuwendung, wie zu klärender Abgrenzung und Konfrontation. D.h. der in der Psychiatrie tätige Mensch bringt immer die eigene Person in den Behandlungsprozeß ein. Das bedeutet eine hohe Verantwortung im Sinne der Selbstüberprüfung und Selbstkontrolle des einzelnen und der Institution.
6. Die Forderung nach einer Psychiatrie ohne Zwang ist eine Aufforderung zum Wegsehen.
Das Grundrecht auf Selbstbestimmung erhält eine neue Qualität, wenn die Fähigkeit zur Selbstbestimmung tiefgreifend gestört ist und wenn sich - daraus Gefährdungen für sich selbst oder für andere ergeben. Dann gebietet es die Menschenwürde, Leben und Gesundheit zu schützen und zu helfen, die Voraussetzungen für Selbstbestimmung und Selbstverantwortung wieder herzustellen. Das kann auch Handlungen gegen die aktuellen Willensäußerungen des seelisch kranken Menschen einschließen.
Begutachtung und Entscheidungsfindung bei krankheitsbedingten Gefährdungen sind extrem schwierig. Zuviel Selbstverantwortung abzunehmen ist ebenso falsch wie zu viel zu lassen. In jedem Fall ist eine ganzheitliche Würdigung der aktuellen seelischen Beeinträchtigung in Verbindung mit der Lebenssituation und der Hilfemöglichkeiten notwendig. Die Einschätzung bleibt auch bei guter Kompetenz und sorgfältiger Prüfung unter Einbeziehung aller relevanten Personen notwendig zu einem beträchslichen Grad subjektiv. Dies gilt für die begutachtenden Ärzte wie für die entscheidenden Richter.
Fehlentscheidungen sind nicht grundsätzlich zu vermeiden, können aber gravierende Folgen haben: Schädigungen von Leben, Gesundheit und wichtigen Sachen oder auch tiefgreifende seelische Verletzungen.
Auch die notwendige Anwendung von Zwang und Gewalt kann ein zusätzliches dauerhaft nachwirkendes seelisches Trauma bedeuten, insbesondere wenn das Vorgehen unverhältnismäßig, grob und respektlos ist. Andererseits kann eine durchaus mit körperlicher Gewalt durchgeführte maßvolle Grenzsetzung helfen, Grenzen akzeptieren und Selbstbegrenzung zu lernen, wenn das Vorgehen klar, angemessen und verständnisvoll ist, und wenn die Krise einschließlich der Gewaltsituation im nachhinein aufgearbeitet wird.
Notwendiger Zwang ist Teil der Therapie.
Vorrangiges Ziel muß sein Zwang vorbeugend zu vermeiden. Heute noch situativ erforderlicher Zwang kann durch eine bessere Psychiatrie weitgehend verhindert werden. Voraussetzungen dafür ist eine gewachsene Vertrauensbeziehung zwischen den seelisch Kranken und den im psychiatrischen Hilfesystem tätigen Menschen durch zuwendende und respektvolle Grundhaltung, durch Öffnung der Stationen und Reduzierung von Zwang auch sonst auf das Unvermeidliche, durch Nachbesprechungen und Behandlungsverträge, durch kontinuierliche therapeutische Begleitung zur Krisenprophylaxe und durch mobile Krisenintervention rund um die Uhr.
Gute Psychiatrie erkennt man daran, daß Zwang immer weniger notwendig wird, ohne daß unvertretbare Risiken eingegangen werden.
7. Wer anklagt, muß auch Kritik vertragen können.
Aus Sicht der Verteidigung ist das Krankheitsverständnis der Ankläger eingeengt, ist ihre Beziehung zu seelisch kranken Menschen abstrakt und ohne Einfühlung. Das Krankheitsverständnis ist wesentlich reduziert auf die Problemfelder Autonomie und Zwang, Wahnsinn und Vernunft. Die Ausrichtung ist einseitig im Sinne der Verabsolutierung von Autonomie und des Verbots von Zwang. Der Machtaspekt von Vernunft ist ebenso über betont wie der Wahnsinn idealisiert. Es ist zu vermuten, daß die Ankläger sich der Dialektik in diesen Widerspruchsfeldern, die individuelle situative Lösungen erfordert, nicht wirklich stellen. Seelisch kranke Menschen, die in ihren Lebensmöglichkeiten beschränkt sind, die leiden und Hilfe brauchen und suchen, ebenso wie die Menschen in ihrem Umfeld, kommen in der Argumentation der Ankläger nicht oder nur am Rande vor.
Der Vorschlag, die Psychiatrie mit ihren Behandlungs-, Entlastungs- und Schutzfunktionen nicht zu verbessern sondern abzuschaffen, ist ein Angriff auf die Grundrechte und die Menschenwürde psychisch kranker Menschen und in der sozialen Konsequenz inhuman.
Die Ausblendung von Hilfsbedürftigkeit, Abhängigkeit, Steuerungsminderung, krankheitsbedingter Gefährdung, von Leiden und Verzweiflung, die Fixierung auf die mögliche Grausamkeit von Mitleid und die Verleugnung der ebenso möglichen Tröstung und Stärkung durch Mitleidende sind dann verständlich, wenn erlittene eigene Kränkungen das Aushalten der Widersprüche unmöglich machen.
So verstanden sind die Ankläger Opfer, aber auch Täter.
Ihre Kritik ist stimulierend, ihre Lösungsvorschläge sind einseitig und für die meisten seelisch kranken Menschen unbrauchbar oder gefährlich.
8. Psychiatriereform ist eine kulturelle und eine gesellschaftspolitische Aufgabe Es ist oft gesagt worden, daß eine Gesellschaft so human ist, wie sie mit ihren ungewöhnlichen und schwachen Mitgliedern umgeht. Das ist sicher richtig, klingt aber s o, als wären diese für die Gesellschaft letztlich nur eine Belastung. Dies wäre eine sehr eingeengte Sichtweise. Vielmehr braucht jede Gesellschaft die Mitglieder, die abweichend vom üblichen Anpassungsverhalten ungewöhnlich empfinden, denken und handeln, als Lebenspartner, um nicht zu verarmen oder zu erstarren.
Psychiatriereform ist die tägliche Arbeit an der aktiven Einbeziehung der seelisch kranken Mitbürger in das gesellschaftliche Leben. Gute Psychiatrie ist Integrationsarbeit. Sie erfordert Herz, Verstand und Ausdauer. Das gilt für den psychiatrischen Alltag und für, die Umgestaltung der psychiatrischen Institutionen zu einem gemeindepsychiatrischen Verbund ebenso wie für die Entwicklung von Steuerungssystemen im politischen Raum und für die wissenschaftliche Evaluation und die Grundlagenforschung.
Psychiatriereform erfordert Widerstand gegen benachteiligende Lebensbedingungen und Behandlungsmöglichkeiten von seelisch kranken Menschen nicht zuletzt seitens der Psychiatriemitarbeiter, sowie kreativen und beständigen einsatz für die Verbessrung der Verhältnisse.
Psychiatriereform ist die alltägliche Arbeit an der Verwirklichung der Vision einer humanen Gesellschaft.
9. Die Psychiatriereform geht weiter.
In den letzten 25 Jahren hat es erhebliche Anstrengungen auf dem Weg zu einer humanen und sozialen Psychiatrie gegeben. Diese sind im wesentlichen von den in den Einrichtungen der Psychiatrie Arbeitenden ausgegangen, die sich in ihren Teams, aber auch in Verbänden wie der Deutschen Gesellschaft für soziale Psychiatrie (DGSP) und in der Öffentlichkeit für eine respektvolle Haltung gegenüber Patienten, für qualifizierte therapeutische Arbeit und für die Entwicklung der Organisationsformen zur Gemeindepsychiatrie mit großem Engagement eingesetzt haben. Mit der Psychiatrieenquete, dem Expertenbericht zum Bundesmodellprogramm, der Personalverordnung Psychiatrie, den Leitlinien zu personenzentrierten Hilfen in der psychiatrischen Versorgung u.a. ist es wie in kaum einem anderen gesellschaftlichen Bereich gelungen, zukunftsweisenden Konzeptionen gesellschaftliche Anerkennung zu verschaffen und zugleich für eine benachteiligte Gruppe finanzielle Ressourcen zum Aufbau regionaler Hilfesysteme zu mobilisieren.
Auch wenn die Entwicklung in den fortgeschrittenen Regionen noch zu langsam verläuft und wenn es viele andere gibt in denen sich wenig entwickelt hat, kann man die erreichten Fortschritte als Erfolg werten, der Selbstvertrauen für die zukünftige Arbeit gibt.
10. Die Weiterführung der Psychiatriereform ist die Chance für neue Gemeinsamkeit.
In einer Gesellschaft, die vom Zerfallen bedroht ist durch den neoliberalen Konkurrenzkampf jeder gegen jeden mit Ausgrenzung der ungewöhnlichen und schwachen Mitglieder, ist der partnerschaftliche Diskurs und die Zusammenarbeit derjenigen, die in einem schwierigen Konfliktfeld sehr leicht zu Gegner werden können - Psychiatrieerfahrene, Angehörige und Psychiatriemitarbeiter - eine große Herausforderung.
Diese Zusammenarbeit ist auf allen Ebenen notwendig und erforderlich:
- im alltäglichen Zusammentreffen bei der Hilfe für psychisch kranke Menschen,
- in der Kommune bei der Entwicklung des gemeindepsychiatrischen Verbunds,
- in der überregionalen fachlichen und politischen Auseinandersetzung.
Psychiatriereform kann nur dann wirklich eine Bewegung werden, wenn der auf dem 14. Weltkongreß für Soziale Psychiatrie 1994 begonnene „Trialog" der drei Gruppen überall auf den Weg kommt. Als vierte Gruppe gehören interessierte, nicht betroffene Bürger dazu, die die Ei.nbeziehung der ungewöhnlichen Menschen als wichtige kulturelle und politische Aufgabe begreifen.
Das Foucault Tribunal könnte in der Auseinandersetzung miteinander und dem Zugehen aufeinander Anstöße zu dieser neuen Gemeinsamkeit geben.
Bremen, 08. April 1998
Prof. Dr. Kruckenberg