Dietmar Kamper

"Ich habe fertig"
 

Die Worte und Sätze des Gerichtsdieners Dietmar Kamper, auf dem Foucault-Tribunal größtenteils vorgetragen, stehen unter dem Motto, das die oft wiederholte Trapattoni-Performance beendete.
 

 1. Tag - 30.4.1998

Diese Veranstaltung hat mehrere Initiatoren und verantwortliche Mitwirkende, Die Veranstalter sind sich nicht einig. Sie befinden sich in einem Widerstreit, der keinen gemeinsamen Nenner hat, vielleicht noch nicht, vielleicht nie. Sie sind im Dissens, was die Hauptsache angeht. Sie riskieren eine Veranstaltung, die die Hauptsache auf die Bühne bringt, ohne vorherige Einigung. Es sind nicht zwei, sondern drei, vier, fünf leitende Auffassungen, vielleicht mehr. Dementsprechend werden verschiedene Veranstaltungen gleichzeitig stattfinden, und Sie müssen herausfinden, in welcher Sie sich gerade befinden. Das ist in Betracht des Themas, der Hauptsache, nicht schlimm. Ich habe mir immer gewünscht, einmal an einer Veranstaltung teilzunehmen, in der ein Dissens, eine Uneinigkeit, ein Widerstreit zum Tragen kommt. Nun ist es soweit.

Ich nenne die fünf unterschiedlichen Zielauffassungen, ohne mir eine abwägende Zusammenfassung anzumaßen: Lediglich die jeweilige Rhetorik habe ich affirmiert:

  1. das Totschweigen des Protestes gegen psychiatrische Zwangsbehandlung soll aufhören; die psychiatrische Zwangsbehandlung gegen den Willen der Betroffenen soll aufhören; der faule Zauber, der sich aus einem Begriff der Geisteskrankheit ergibt, soll aufhören: der Begriff der Geisteskrankheit soll ersatzlos gestrichen werden.
  2. eine solche Forderung kann nur in Rücksicht auf den Zwang eingelöst werden, der in der gesamten Gesellschaft herrscht; das Psychiatrie-Modell ist nämlich auf die Gesellschaft ausgedehnt worden: der Wahn, der in Psychiatrien behandelt wird, hängt mit dem gesellschaftlichen Wahn unauflöslich zusammen, ohne mit ihm identisch zu sein. Analyse tut not.
  3. man kann doch nicht auf ärztliche und menschliche Hilfe verzichten; daß die menschliche Freiheit durch Tyrannei und Therapie gefährdet wird (Thomas Szasz), ist in erster Hinsicht selbstverständlich, in zweiter Hinsicht ein zu grobes Urteil; man kann den Zwang, den ein Mensch gegen sich selbst richtet, nur durch vorübergehenden Zwang von außen brechen.
  4. es reicht nicht aus, vom Elend der Psychiatrie-Betroffenen und -Erfahrenen schriftlich und mündlich zu berichten; die Techniken des Weghörens und Totschweigens sind nach der Phase der Anti-Psychiatrie gesellschaftlich und institutionell gut eingeübt; deshalb bedarf es der Aufführung des Prozesses, bedarf es der performance auf der Bühne.
  5. es reicht nicht aus, die Vernunft und die Freiheit zu reklamieren; gegen den faulen Zauber wissenschaftlicher Begrifflichkeit und institutioneller Regelungen, Prozeduren und Maßnahmen, gegen die Normalität des Protestes kommt nur ein Gegenzauber an, wie er historisch in Literatur und Kunst ausprobiert wurde; deshalb sind Unterbrechungen des Prozesses mittels sprachlicher und bildlicher Intensitäten nötig.
Wie diese fünf Auffassungen des Ziels der heute beginnenden Veranstaltung konkret zum Austrag kommen, gegeneinander und miteinander, bleibt dahingestellt. Meine Aufgabe sehe ich darin, eine stillschweigende gegenseitige Instrumentalisierung zu unterbinden, ohne meinerseits zu instrumentalisieren. Ich werde dafür sorgen, daß der Zwang, der hier angeklagt ist, nicht mehr als unbedingt notwendig in der Art und Weise unseres Vorgehens selbst manifest wird.

Übrigens: die Idee mit der Theateraufführung hatte Wolf-Dieter Narr, aber wir dachten noch an Hörsäle. Daß wir hier sind, liegt einzig an Renate Bauer. Sie hat uns alle zusammengehalten und in die Volksbühne gebracht. Ihr anfangs nicht zu danken, wäre ein sträflicher Leichtsinn. Der Dank an die anderen kommt hoffentlich später.
 

 2. Tag - 1.5.1998

Ich bin hier der Ansager, der Absager, hoffentlich nicht der Versager, schon jetzt ist es ein ungeliebtes Amt.

Sie hören eine Nachbemerkung von mir, eine Vorbemerkung von Michel Foucault. Zunächst die Nachbemerkung: gestern ein furioser Auftakt mit ein wenig Nostalgie. die Lesung von Kate Millet und der Vortrag mit Gesang und Trommeln von Rolf Schwendter; die schiefgegangene, abgebrochene Podiumsdiskussion; der fulminante Auftritt der Hexen.

Inszenierungen, welche die Beteiligten dumm dastehen lassen, sind nicht immer der richtige Weg. Sie zwingen dazu, gegeneinander recht zu behalten. Die Absicht, recht zu haben oder recht zu behalten, bringt aber nichts Neues, vor allem nichts zu lernen. Vermutlich haben die Professoren und die Hexen dasselbe gewollt: demonstrieren, daß es der Autismus ist, der zwanghaft Zwang ausübt. Aber sie taten es in der Situation auf durchaus autistische Weise. Und so konnten sie kaum etwas voneinander merken.

Das Ziel der Podiumsdiskussion "Autismus der Wissenschaften", die nicht stattfand, wäre der Nachweis gewesen, daß die normalisierte Wissenschaft (wie das normalisierte Bewußtsein) ein subtil gebautes Gefängnis ist, dessen Wände aus Bildern der Freiheit bestehen. Das kann man wissen, manchmal, aber man fällt immer wieder zurück in einen Zustand der Lethargie, der wie Frieden aussieht. Dann ist man zufrieden mit diesem "Gefängnis der Freiheit" (so Wolfgang Kaempfer). Dagegen helfen nur eine blühende Phantasie, der kreative Schatz der Devianz und der angstvoll-angstlose Gegenzauber der Kunst. Die Normalität, definiert als Vernunft und Freiheit, ist keine Zuflucht, sondern eine mindestens ebenso schlimme Falle wie der etikettierte Wahnsinn. Das haben wir von Michel Foucault gelernt, das ist sein Devise im Nachgang zu Nietzsche.

Mein Amt: Gerichtsdiener, Gerichtsdiener a.D., außer Dienst, nicht meinetwegen, sondern von Gerichtswegen. Der Gerichtshof der Vernunft hat abgedankt. Nun besteht die Jury aus denen, die die Wirkungen der Vernunft am eigenen Leibe und mit körperlicher Einbildungskraft erfahren haben. Foucault hat diese Vernunft des Gerichtshofs angeklagt: "die Vernunft ist die Folter". Etwa zur gleichen Zeit schrieb er folgendes über das Rechtswesen und das Gesetz:

"Das Gesetz ist nicht Befriedigung. Unter dem Gesetz geht der Krieg weiter, er wütet weiter innerhalb aller Machtmechanismen, auch der geregeltsten.

Der Krieg ist der Motor der Institutionen und der Ordnung. Auch in dem geringsten seiner Räderwerke wird der Frieden vom Krieg getrieben. Anders gesagt: man muß unter dem Frieden den Krieg herauslesen. Der Krieg ist die Chiffre eben des Friedens. Drittens: wir befinden uns im Krieg - die einen gegen die andern. Eine Schlachtlinie durchquert die gesamte Gesellschaft durchgängig und andauernd, und diese Schlachtlinie stellt jeden von uns in ein Lager oder in ein anderes. Es gibt kein neutrales Subjekt, man ist unvermeidlicherweise der Gegner von jemandem. Eine binäre Struktur durchzieht die Gesellschaft. Hier kommt etwas Wichtiges zum Vorschein: der großen pyramidenförmigen Beschreibung, die das Mittelalter oder die philosophisch-juridischen Theorien vom Gesellschaftskörper lieferten, jenem großen Bild des Organismus, des menschlichen Körpers, das Hobbes zeichnen wird, oder der dreigliedrigen Organisation (in drei Ständen), die in Frankreich und in anderen Ländern Europas gewisse Diskurse und die Mehrheit der Institutionen bestimmt, setzt der uns hier interessierende Diskurs - nicht überhaupt zum ersten Mal, aber zum ersten Mal in einer präzisen Konstellation - eine binäre Konzeption der Gesellschaft entgegen. Es gibt zwei Gruppen, es gibt zwei Kategorien von Individuen, es stehen sich zwei Armeen gegenüber. Und unter dem Vergessen, unter den Illusionen, unter den Lügen, die uns glauben machen wollen, daß es eine dreigliedrige Ordnung gibt oder daß es eine Pyramide der Unterordnung gibt oder daß es einen Organimus gibt, unter den Lügen, die uns glauben machen, daß der Gesellschaftskörper durch Notwendigkeiten der Natur oder durch Funktionserfordernisse geleitet ist, ist der Krieg zu finden, der weitergeht, der Krieg mit seinen Zufällen. Warum muß man den Krieg finden? Weil jener alte Krieg ein andauernder Krieg ist. Wir haben tatsächlich Schlachtenforscher zu sein, weil der Krieg nicht zu Ende ist, weil entscheidende Schlachten gerade erst vorbereitet werden, weil die entscheidende Schlacht erst zu gewinnen ist, d.h. daß die Feinde, die uns gegenüberstehen, uns weiterhin bedrohen und wir zum Ende des Krieges nur gelangen können - nicht indem wir eine Befriedung einklagen, sondern indem wir die Sieger sein werden."

Das Gesagte bezieht sich auf den Untergrund. Man sollte wissen, was dort passiert, wenn wir jetzt den Prozeß als Lehrstück anfangen. Der Prozeß findet vor den Schranken des Gerichts statt, aber auf den Brettern der Bühne, die die Welt bedeuten.
 

   3.  Tag - 2. Mai 1998

Hier wird nicht nur über ein externes Geschehen (über Schicksale, die durch Zwangspsychiatrien mitverursacht sind) berichtet, hier geschieht auch etwas: auf, unter und hinter der Bühne. Das ist der Sinn der performance: es wird etwas performiert, und das hat Folgen; man braucht eine doppelte, gespaltene Aufmerksamkeit nach dem Motto des modernen Theaters: Ist es auch Wahnsinn, hat es doch Methode.

Es finden mehrere Veranstaltungen statt, die teilweise gemeinsame, teilweise entgegengesetzte Ziele verfolgen, manches ist nicht abgesprochen; manches, was abgesprochen wurde, entfällt und schafft Ungleichgewichte. Die Göttin mit der Augenbinde und der Waage wird arg strapaziert. Ich wiederhole noch einmal die fünf an der Veranstaltung beteiligten Initiativen: die Irrenoffensive, die Universität, die Psychiatrie, das Theater, die Kunst. Man hat mich gestern mehrfach ultimativ aufgefordert, den Stuhl des Richters zu besteigen und das nicht besetzte Amt wahrzunehmen. Also das Wort zu erteilen, das Wort zu entziehen und notfalls den Saal räumen zu lassen: ich wurde auch aufgefordert, Vertreter von glücklich Psychiatrisierten auf die Bühne zu holen. Ich werde das nicht von mir aus tun, sondern weiterhin dafür Sorge tragen, daß das Tribunal seinen Namen, nämlich den von Foucault, verdient. Das heißt: der Doppelbödigkeit eine Chance zu geben, die sich in den beiden Fragen ausdrückt: Wie vernünftig ist die Psychiatrie? Wie wahnsinnig ist die Gesellschaft? - was auch vice versa gilt: Wie wahnsinnig ist die Psychiatrie? Und wie vernünftig ist die Gesellschaft? Diese Doppelfrage kann auch anders formuliert werden und lautet beispielsweise: Wo ist der Zwang? Wo ist die Macht? Wo ist der Wahn? Wo ist der Sinn? Wann finden sie statt? Und unter welchen Bedingungen?

Wir haben drei Anklagen und eine Verteidigung, das ist ein solches Ungleichgewicht. Zwei vorgesehene Anklagereden, eine dritte Anklage, gestern von Kate Millet verlesen, die nach 7-stündiger Diskussion in der Nacht zustandekam. Diese ist nicht an die kritische Öffentlichkeit hier gerichtet, sondern an den höchsten Gerichtshof der Vereinten Nationen: Verbrechen gegen die Menschlichkeit, verübt durch Institutionen der Psychiatrie. Die eine Verteidigung hat es schwer. Ich möchte Herrn Kruckenberg und seinen Mitverteidigern Irmtraud Bartsch und Klaus Nouvertné noch einmal aisdrücklich danken, daß sie gekommen und geblieben sind.

Was gegeneinander steht, ist auf der einen Seite das Angebot, die verheerenden Wirkungen der Zwangspsychiatrie zuzugeben und die Geschädigten mit Hilfe reformierter Institutionen zu verstehen und verständnisvoll zu behandeln. Von der anderen Seite wird dieses Angebot abgelehnt, überhaupt jede Hilfe und jedes Verständnis. Man will nicht verstanden werden, man will Gerechtigkeit. Selbst die Figur eines Psychiaters, wie Hinderk Emrich sie vorführte, die durch Seitenwechsel sich legitimiert, fand keine Zustimmung, weil das Verstehen sich historisch desavouiert habe: man wittert in jeder Zuwendung das, was Todorov das "todbringende Verstehen" genannt hat, in seiner Beschreibung der Eroberung Amerikas durch die Spanier, und was Artaud als den "faulen Zauber" der Macht über Menschen bezeichnete. Sich gegenseitig in die Freiheit entlassen und - solange das nicht geht - die Psychiater und die Ärzte mit verständlichen und unverständlichen Reden belehren. Ob das gut geht?

In Gerburg Treusch-Dieters Szenario ging es um die Wahrheit des Obszönen - das ist der Name dessen, was hinter und unter der Bühne, der Szene ist.

Zwei Sätze, die mir unvergeßlich, aber ebenso inkommensurabel sind:

"Die Schuld beginnt mit dem Freispruch." (Aischylos)

"Die Strafe, das ist die Sprache." (Ingeborg Bachmann)

Und ein

Satz Artauds, der mir im Ohr blieb, von Renate Bauer zitiert: "Die Schuld, die Strafe - das ist das Verkommenlassen der Poesie".
 

   4. Tag - 3. Mai 1998

Der angeklagte Zwang kommt in gemilderter Form auch auf diese Bühne. Das ist der unendliche Mangel an Zeit, der trotz der eingeräumten dreißig Stunden dieses Tribunals der unbesiegbare Herrscher blieb.

Ich wurde gestern vom Gerichtsdiener a.D, vom Pedell, der mit der Glocke ein verlassenes Gericht besorgt, von der rechten Hand des wahnsinnigen Gerichtspräsidenten zur linken Hand des Dramaturgen hinter der Bühne. Ich wechselte von den Raumzwängen zu den Zeitzwängen. Ich mußte den Prozeß, der sich in schlechter Unmittelbarkeit verlor, in die Theaterregeln zurückzwingen, damit er zu Ende geführt werden konnte. Das geschah durch mich gegen meinen erklärten Willen. Das war mein Lehrstück.

Die Jury, die "normalste" Gruppe auf der Bühne, geriet immer dann in die Nähe des Wahns, wenn sie behauptete, sie befinde sich nicht auf der Bühne, sondern auf dem Boden der Tatsachen und hadere mit einer weltweiten Öffentlichkeit. Deshalb hängen Klage, Anklage und Urteil über das himmelschreiende Unrecht der Psychiatrie jetzt am Bühnenhimmel. Sie müssen weiterbefördert werden.

Der Wahnsinn ist der Urstoff des Theaters.

Das isolierte, über sich selbst aufgeklärte Bewußtsein, das Bewußtsein, das auf dem Traum der Vernunft basiert, hat nicht mehr das Problem der Konsistenz der Welt, sondern ist konfrontiert mit der Frage, ob es die Allmacht, die es erlangt hat, ausüben soll. Es weiß nun, daß, wenn es sie ausübt, alles Andere verschwindet. Erst Machtverzicht läßt der Alterität eine Chance (so Otto E. Rössler). Es gab zwei Varianten dieses Verzichts: das differenzierte Urteil der Jury und die Bild-Collage von Knut Gerwers und Hermann Treusch. War das erste gespalten zwischen Ablehnung und Annahme der Hilfe in Form des Verstehens, so demonstrierte die letzte Vorführung eine mächtige Bilddominanz über den Körper des Schauspielers, gegen die dieser chancenlos ist.

Gegen ein Totschweigen etwas zu Gehör zu bringen, ist eine Kunst. Aber Kunst kommt von Nicht-Können, von Unterlassen. Sie ist eine positiv gewendete Form des Scheiterns.

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