Mit freundlicher Genehmigung des Thieme Verlags, entnommen aus:

Psychiatrische Pflege Heute 4/98, S. 213 - 216.


Bericht des „Foucault Tribunal zur Lage der Psychiatrie"
MACHT WAHN SINN

30.4.-3.5.´98 in der Volksbühne, Berlin

René-Robert Talbot
42 Jahre, war von Anfang an mit der organisatorischen Seite des Foucault-Tribunals zur Lage der Psychiatrie beschäftigt.


Die Vorgeschichte


Seit 1961, dem Erscheinungsjahr von Thomas Szasz „Geisteskrankheit - ein moderner Mythos", gibt es eine fundamentale Kritik an der psychiatrischen Praxis.
Die Kritik stellt nicht nur die Zwangsmaßnahmen der Psychiatrie radikal in Frage, sondern bezieht ihren intellektuellen Tiefgang daraus, daß sie die Biologisierung und Pathologisierung von Verhalten, das von krankhaften mentalen Zuständen verursacht sei, als logischen Fehler, als Kategorien-Fehler bezeichnet. Um es auf einen kurzen Nenner zu bringen: Wissen über Körper wird durch physikalische Beobachtungen, Messungen und mathematische Berechnungen erlangt. Wissen über den Geist wird durch sprachliche Kommunikation und die Interpretation von Bedeutungen erlangt, es ist abhängig von Interpretationen des Verhaltens und der Ausdrucksformen anderer Personen. Erklärungen über die Seele und Erklärungen über den Körper gehören zu grundsätzlich anderen Bereichen der Kommunikation und Erkenntnis.

Folge dieser Auffassung ist, daß es kein psychiatrisches Wissen gibt. Damit hat einerseits Psychotherapie eher religiösen Charakter, die typischen Eigenschaften jeder Psychosekte (siehe Spiegel Nr. 24/98 S.48). Die geschlossenen Abteilungen einer Psychiatrie sind ein Gefängnis, Zwangsbehandlung ist Körperverletzung, und das psychiatrische Vokabular dient nur der legitimatorischen Rhetorik, um Menschen zu stigmatisieren und aus den sozialen Beziehungen auszugrenzen, ihnen die Mitmenschlichkeit aufzukündigen. Anderseits kann es in einem Strafprozeß kein Kriterium „Unzurechnungsfähigkeit" mehr geben.


Die Veranstalter

Auf einen Anstoß der Irren-Offensive wurde von den Professoren der Freien Universität Berlin (FU) Wolf-Dieter Narr, Dietmar Kamper und Gerburg Treusch-Dieter eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe zur vorbereitenden Klärung eines Foucault Tribunals im Sommersemester 1997 an der FU angeboten. Resultat eines Symposiums mit Prof. Szasz als Höhepunkt der Arbeit dieser Arbeitsgruppe war am 26.6.1997 die Gründung des Foucault Tribunals zur Lage der Psychiatrie. Damals stand bereits fest, daß es einen weiteren, indirekten Mitveranstalter geben würde - die Sozialpsychiatrie vertreten durch Prof. Kruckenberg und Dr. Pörksen . Beide hatten zu diesem Zeitpunkt zugesagt, die Verteidigung zu organisieren.

Nach der Gründung wurde das Foucault Tribunal institutionell in der FU abgesichert, die Finanzierung wurde von der FU übernommen und die Volksbühne als Miveranstalter und Ort des Tribunals gewonnen.


Die Jury

Im Gegensatz zu einem Russell Tribunal war die akzeptierte Prämisse dieses Tribunals - im Sinne Michel Foucaults -, daß das Urteil von einer Jury gefällt werden sollte, deren Mitglieder selbst Erfahrungen mit psychiatrischer Behandlung gemacht hatten. Die Auswahl traf die Irren-Offensive im gegenseitigen Einverständnis der Jurymitglieder. Die Autorität der Entscheidung der Jury mußte sich aus der Transparenz und Fairneß des Prozesses sowie der Autorität der Jurymitglieder ergeben. Eine internationale Jury: Kate Millett (USA), Don Weitz (Kanada) als Repräsentant von Support Coalition International - einem Zusammenschluß von 71 psychiatrie-kritischen Gruppen aus 9 Ländern, Hagai Aviel (Israel), sowie 8 Deutsche aus 3 Städten, darunter Alexander Schulte u.a. Mitglied im Bundesvorstand des Bundesverbands Psychiatrie-Erfahrener.

Bei einem Tribunal handelt es sich immer um ein außerordentliches Verfahren. Die Jury machte einen entscheidenden Schritt: durch eine Erklärung, die sowohl an die Besucher verteilt als auch verlesen wurde, stellte sie klar, daß dies keine Debatte würde, sondern daß die Menschenrechtserklärung der UNO den rechtlichen Rahmen bildet, nach dem zu urteilen sie beabsichtige. In dieser Erklärung wurde außerdem verdeutlicht, daß der psychiatrische Zwang im Mittelpunkt des Verfahrens stehen würde.

Die Jury gewann an Autorität, indem sie das Verfahren zunehmend an sich zog, z.B. das Publikum an den Klagen beteiligte, und die professorale Moderation von Herrn Kamper und Herrn Bruder durch eigene Regieanweisungen und Fragen unterbrach. Sie hatte mit Kate Millett , einer weltbekannten Aktivistin für Emanzipation und Menschenrechte, eine würdige Sprecherin.

Der erste Tag des Tribunals

Die ganze Vielfalt und der Facettenreichtum der vier Tage an der Volksbühne wird allen Besuchern eindrücklich in Erinnerung bleiben. Die vielen künstlerischen Beiträge, die Videoinstallation des Großinquisitors, die Darstellung eines Erbgesundheitsgerichtsverfahrens und, und, und... haben meiner Ansicht nach Maßstäbe gesetzt. Diese Lebendigkeit hat alle Teilnehmer begeistert. Dagegen kann ein Bericht über das Tribunal nur trocken sein.
Der Berichterstatter bittet, ihm seine subjektive Schwerpunktbildung zu verzeihen.

Vor einem voll besetzten Haus - insgesamt über 1.000 Besucher haben das Tribunal auf der großen Bühne verfolgt- eröffnete die Anklage das Tribunal mit einer Rede von Prof. Wolf-Dieter Narr. Er betonte, daß es einen "Unterschied ums Ganze" ausmacht, ob mit oder ohne Zwang „geholfen" wird. „Bei allen Schwierigkeiten in der Praxis, ist dies der Fels, an dem jeder Konsens zerbricht".
Statt Prof. Thomas Szasz, der ganz kurzfristig wegen einer schweren Erkrankung nicht mehr reisefähig war, zitierte sein Schüler Ron Leifer Teile dessen Anklageschrift, die zusammen mit den Thesen der Verteidigung und weiteren Texten in der „Irren-Offensive" Nr. 7 als Reader zum Tribunal vorliegt (Bestellmöglichkeit am Ende). Ron Leifer zog in zehn eigenen Anklagepunkten eine vernichtende Bilanz der Psychiatrie. Als Jude, der sich sehr intensiv mit Buddhismus beschäftigt hat, beschrieb er ihre Funktion als „Gleichschaltung" und die Funktion der Psychopharmaka als Ablösung von „Arbeit macht frei" durch „Medikamente machen frei". Dem stellte er den Sinn des Wahns entgegen und die Unhaltbarkeit eines medizinischen Modells des „kranken Hirnstoffwechsels". Offensichtlich werden die Neurotransmitter entsprechend den Ereignisse in der Welt ausgeschüttet, wie er am Beispiel einer euphorisch „Tor" schreienden Fangemeinde verdeutlichte. Er argumentierte wie Szasz mit einem sozio-analytischen Ansatz, der die unausgesprochenen Regeln in der Gesellschaft benennt, den „heimlichen" gesellschaftlichen Auftrag, den die Psychiatrie erfüllt. Dieser würde offenbar, wenn jede/r für sich selbst den Wunsch nach medizinischer Zwangseinweisung und Zwangsbehandlung, dokumentieren müßte. Darüber hinaus bestritt er die Wissenschaftlichkeit von Psychiatrie, da sie ihre Kritiker durch Totschweigen ausgrenzt, wie es sich durch das Vorgehen der Universität in Syracuse gegenüber Prof. Szasz Anfang der 60er Jahre beispielhaft gezeigt habe.

Prof. Kruckenberg verteidigte den „therapeutisch notwendigen Zwang". Er bestätigte damit allerdings, daß das Paradigma von Psychiatrie - auch in ihrer sozialpsychiatrischen Ausprägung - der Zwang ist. Er unterschied gute von schlechter Psychiatrie und versuchte durch das Geständnis, daß schlechte Psychiatrie zur zweiten, womöglich schlimmeren Krankheit wird, einer Zwickmühle zu entkommen: Entweder er argumentiert dafür, daß der Zwang abgeschafft wird, um damit den Krankheitsbegriff der Psychiatrie zu retten, indem er durch geschicktes Nachfragen versucht, die Anklage in eigene Widersprüche zu verwickeln; oder er verteidigt den Zwang und offenbart damit auch die letzte „Reform" der Psychiatrie - die Soteria Modelle und die sog. „subjektorientierte Psychiatrie" - als legitimatorische Rhetorik zur Verdeckung der psychiatrischen Gewalt, die trotz aller sozialpsychiatrischen Schnörkel eben die totalitäre Grundstruktur bildet.
Souverän ließ er sich in seiner Verteidigungsrede von Fragen der Jury unterbrechen, bekannte sich dabei allerdings zum Geständniszwang „Krankheitseinsicht" dadurch, daß er weitere eigene Zwangsbehandlungen nur dann per Behandlungs-Vertrag legitimieren würde, wenn er zuvor psychiatrisiert wurde.
Gegenüber ihm waren seine Mitverteidiger schwach - die Krankenschwester Irmtraud Bartsch verfehlte das Thema, da sie von offenen Stationen sprach und auf die verunsichernde Frage, ob sie von einer Jugendherberge berichte, nichts mehr zu sagen hatte. Der Psychologe Klaus Nouvertné zog den Unmut der Jury auf sich, als er mit undokumentierten Hannibal Lector Geschichten das Ressentiment des grausamen und schwer kriminellen Verrückten bemühte. Das wirkte auf die Anklageschrift von Szasz, der ja gerade die Unzurechnungsfähigkeit in Abrede gestellt hatte, geradezu spießig.

Zweiter Tag

Die Höhepunkte

- Das bewegende Zeugnis von Frau Manthey geb. Hempel, darüber, wie sie, von Psychiatern als gemeingefährlicher Idiot und angeboren schwachsinnig beurteilt, zur Gaskammer geschickt wurde und nur durch viel Glück, im Gegensatz zu ihrer kleinen Schwester, gerade noch entkommen konnte.

- Das Kreuzverhör mit Dr. Ellis Huber, Präsident der Berliner Ärztekammer. Markant: Einerseits würde er einen schwerverletzten Menschen trotz des Risikos einer späteren Anzeige wegen Körperverletzung gegen dessen Willen verarzten; andererseits zog er sich auf das Gewaltmonopol des Staates zurück, um das gleiche Recht einer Anzeige wegen Körperverletzung abzuwehren, als es für sog. „psychisch Kranke" gefordert wurde - in meinen Augen ein Offenbarungseid. Denn mit dieser Argumentation wird die Verantwortung der Staatlichen Gewalt zugeschoben, Eigenverantwortung in diesem hochsensiblen Bereich abgelehnt und damit die Komplizenschaft des Arztes mit dem Staat bestätigt.


Viele weitere Zeugnisse wurden gehört, es gab Beiträge auf höchstem wissenschaftlichen und philosophischen Niveau. All das wird in einer Dokumentation nachzulesen sein.
Nach den Plädoyers hatte die Jury Zeit ihr Urteil zu verfassen.

Link zu: Urteil / Die Urteilsbegründung

Der Abspann

Unmittelbar nach der Urteilsverkündung wurden weiße Nelken - ein Symbol der Solidarität mit den in der Psychiatrie umgekommenen Opfern - an diejenigen verteilt, die das Urteil unterstützen wollten ; ca. die Hälfte des Publikum nahm sie an.

Das Fehlen einer Exekutive des Tribunals war im Sinne Foucaults. Dieses Paradox - ein Tribunal in aller Schärfe -, aber keine strafende Exekutive, ermöglichte es, Michel Foucault im Namen des Tribunals zu verwenden. Sein langjähriger Lebensgefährte, Daniel Defert, konnte sich dem in seinem Abschlußbericht als Prozessbeobachter anschließen.
Während dieses letzten Tages sah ich viele leuchtende Augen, was den Erfolg des Ganzen dokumentierten dürfte.

Der nächste Schritt ist eine internationale Unterstützungskampagne für das Urteil. Zu den Erstunterzeichner gehört unter vielen anderen Prof. Loren Mosher. Ab dem 50ten Jahrestag der U.N. Menschenrechtserklärung, dem 10.12.´98 werden sie hier im Internet veröffentlicht.


Was können Pflegekräfte tun?

In den Worten von Kate Millett, sie hat mit 18 Jahren als Praktikantin in der Psychiatrie gearbeitet: „Psychiatrie ist der Bereich der Medizin mit den stärksten patriarchalen und autoritären Strukturen, aber ich denke, Schwestern könnten eine Kraft für das Gute sein und ich denke, insbesondere könnten sie Druck auf die Frage des Zwangs ausüben." Ein Teil des Drucks für eine Änderung in der Psychiatrie könne heute von den Schwestern kommen, die durch die Frauenbewegung mehr und mehr selbstbewußt geworden sind, wohingegen sich an der untergebenen Rolle den Ärzten gegenüber nichts geändert hat. „Wenn die Schwestern Fuß gefaßt haben und nicht mehr nur diese untergeordneten Personen sind, denke ich, daß die Schwestern die Behandlung in der Psychiatrie genauer unter die Lupe nehmen werden." argumentiert sie. (zitiert aus Nursing Time, August Ausgabe)


Presseberichte

"Ich habe fertig!" von Dietmar Kamper, Gerichtsdiener des Foucault Tribunals

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